Am Schwarzen Berg
Cramer bemühten sich seit Jahren, dem Grafen diesen Tisch freizuhalten. Betrat er mit vorsichtigen Schritten den Lesesaal, blieb sein Blick fest auf die Bibliothekarin am Auskunftsplatz gerichtet. Wenn Veronika dort vor ihrem Bildschirm saß, Glitzerpuder im Dekolleté, ein Paradiesvogel auf einem orthopädischen Drehstuhl, verneigte er sich leicht in ihre Richtung. Sie winkte und lächelte, und er strebte zuversichtlich seinem Platz zu.
Von ihren Kolleginnen wußte Veronika, daß der Graf nie auftauchte, wenn sie unten in ihrem Büro arbeitete. Nahm sie Urlaub oder änderte unverhofft ihren Dienstplan und eine andere Frau saß an ihrer Stelle, verlor der Graf jedesmal aufs neue die Kontrolle über seine sonst so friedlichen Gesichtszüge. Seine Bewegungen wurden hektisch, und er kam nur unter ständigem Kopfdrehen, Schütteln und Zappeln bis zum Fenster, wo er nach draußen starrte, bis er wieder Haltung angenommen hatte. Dann verließ er fluchtartig die Bücherei. Seinen richtigen Namen kannte niemand. Er besaß keinen Benutzerausweis. Sein Alter war schwer zu schätzen; mal schlurfte er langsam und gebeugt daher, dann wieder bewegte er sich mit jungenhaftem Schwung zwischen den Regalen. Zu dieser Grazie paßte auch sein Haarschopf, der weiß wie Zuckerwatte über Stirn und Ohren wuchs. Diese Frisur erinnerte Veronika an einen jungen Popmusiker aus den Achtzigern, der ihr in Erinnerung geblieben war, weil er in einem Fernsehinterview verraten hatte, daß er Weichspüler verwendete, um seine platinblonde Haarpracht wie Spieltierplüsch abstehen zu lassen.
Der Graf schrieb unentwegt in seine Hefte. Er benutzte einen Bleistift, und die Zeichen, die er aufs Papier warf, waren hastige Girlanden aus Strichen, Punkten und Häkchen. Veronika hatte oft das Gefühl, daß seine Augen sie verfolgten. Doch jedesmal, wenn sie das unbestimmte Kitzeln eines fremden Blicks im Rücken spürte und sich in seine Richtung umdrehte, empört, geschmeichelt, ein wenig ängstlich, sah sie nur den gesenkten, weißbeflauschten Kopf, der beim Schreiben leise nickte. Am Ende eines Tages glänzte der rechte Handballen graphitschwarz. Cramer, neugieriger als Veronika, hatte einen Nachmittag lang Bücher in der Nähe des kleinen Mannes eingeräumt und ihn anschließend getauft. »Er ist ein Graf, ein Stenograf, unser Flauschiger, und er benutzt Kurzschrift. Gabelsberger heißt sie, die kennt heute kein Mensch mehr. Meine Mutter hat sie als junges Mädchen gelernt. Sie machte sich darin Notizen in ihren Kalender. Keiner konnte das lesen, weder wir Kinder noch der Vater. ›Niemand soll meinem geheimen Leben auf die Spur kommen‹, hat sie gesagt. Als Kind hat es mich gefuchst, wenn sie sich abends hinsetzte und mit gespitzten Lippen an ihrem silbernen Drehbleistift saugte, bevor sie anfing zu kritzeln. Ich sehe es noch vor mir, dieser kostbare, leuchtende Stift und ihre dunkelroten Lippen, fast schwarz, dick bemalt. Sie wußte genau, wie es mich quälte, daß sie mir etwas verheimlichte. Ich brannte lichterloh, wie die kleinen Burschen bei Stefan Zweig, die ihre schönen Mütter beim Sündigen beobachten. Später hat sie mir gesagt, da stünden nur Banalitäten drin, Friseurtermine und ähnliches. Ihre Kalender hat sie mir alle vermacht. Ich könnte auf meine alten Tage noch herausbekommen, ob sie die Wahrheit gesagt hat. Aber jetzt fehlt mir die Lust. Komisch, nicht wahr?«
Veronika hatte sich nie dafür interessiert, was der Graf aufschrieb. Ihr gefiel seine Besessenheit. Er schien die Bücherei als Schutzraum für seine Arbeit zu brauchen, viel mehr als andere, die hier ein und aus gingen, sogar mehr als die meisten Mitarbeiter. Veronika fand es erschreckend, daß es unter den jüngeren Kolleginnen und Kollegen kaum noch besessene Leser gab. Auf die beim alten Schlag so beliebten literarischen Anspielungen gingen sie nicht ein, weil sie sie nicht verstanden. So nannte außer Veronika, Cramer und ein paar anderen Altgedienten niemand mehr den Auskunftsplatz ›Pythiaschemel‹ oder bezeichnete die verschiedenen fensterlosen Magazinräume in den Zwischengeschossen als ›Höllenkreise‹.
Die Mädchengruppe hatte zerfledderte Spiralblöcke, überquellende Schlampermäppchen und Handys in Babysocken zwischen den Habseligkeiten des Grafen ausgebreitet, die er sonst sorgfältig aufbaute – die Bleistifte zeigten mit den Spitzen in Richtung Fenster, daneben lag ein Heftstapel. Auf einem Stofftaschentuch stand eine Thermoskanne. Diese zerkratzte
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