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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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sauberen Cordhosen, gebügeltem Karohemd. »Mein Famulus«, sagte Hajo. Nebenan ließ er sich kaum noch blicken. »Er geht in der Stöckachstraße in so eine Nachhilfe. Mathe und Physik. Er will nach dem Abi Medizin studieren, da braucht er gute Noten, gerade in diesen Fächern.«
    Emil erhob sich und stieg die Treppen zum Haus hinauf. Im Gras blitzte das Sensenblatt. Auf seinem Arm hatte sich eine braunrote Schlacke gebildet. Seine Finger klebten. Im gleichen Augenblick, als das Telefon wieder zu läuten begann, öffnete sich die Tür des Nachbarhauses und Carla trat heraus. Sie trug eine hellbraune Basttasche und grüßte knapp zu Emil hinüber.

4 Im Lesesaal sprang Veronika von ihrem Stuhl auf, um dem hohen, vogelartigen Schrei nachzugehen, der von den Benutzerarbeitsplätzen am Fenster kam. Schon länger war von dort eine beunruhigende Mischung aus ärgerlichem Geflüster, Papierknistern und Stuhlbeinkratzen zu hören gewesen. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte Veronika diese Geräusche ignoriert und noch einmal die Wiederholungstaste gedrückt, um Emil anzurufen. Seine unzusammenhängenden Reden vorhin am Frühstückstisch, über Peter, der in einem »schrecklichen Zustand« nebenan aufgetaucht sei, über einen Streit mit Carla, begleitet von nicht näher erklärten »Handgreiflichkeiten«, verfolgten sie seit Stunden. Zuerst hatte sie sich ins Spotten, dann ins Trösten gerettet und schließlich ihren Dienstbeginn genutzt, um zu flüchten. Emil war vollständig durcheinander gewesen. In Boxershorts lief er ihr bis zum Auto hinterher, wiederholte ständig denselben Satz: »Irgendwann wird er schon rauskommen!« Auf der Stufe vor dem Gartentor trat er versehentlich auf eine Weinbergschnecke. Das Gehäuse zerbrach leise knackend, und die Splitter bedeckten die gelb und schwärzlich herausquellenden Eingeweide wie winzige Porzellanscherben. Emil rief »Scheiße!« und schob das schmierige Häufchen hastig mit dem Fuß ins hohe Gras am Wegrand. Im Rückspiegel sah sie, wie er sich mit der Hand über die Augen fuhr.
    »Hau ab, du Penner!«
    »Mein Platz, seit Jahren mein Platz!«
    »Geh sterben, Mann!«
    Aufgeregtes Stimmengewirr empfing Veronika, die zwischen den Regalen entlanghastete. Sie stellte sich den Blicken der pöbelnden Teenager, so wie sie täglich den Blicken der nur wenig älteren Auszubildenden standhalten mußte: Das schwarze Haar stand knisternd über der Stirn, starr von Festiger und Spray. Emil haßte diese Frisur. Er trauerte dem Pferdeschwanz nach, den sie früher getragen hatte. Veronika wußte, daß ihr Mund fuchsienrot glänzte, daß ein schwerer Lidstrich am Wimpernrand entlangkroch und die Linien der aufgemalten Brauen kühne Bögen über ihren grauen Augen zogen. Auch wenn auf ihren Handrücken die Adern hervortraten und die Finger in den schweren Ringen müde und geschwollen aussahen, war klar, daß hier eine ebenbürtige Gegnerin aufmarschierte: »Ich muß Sie bitten, sich an die Regeln dieses Hauses zu halten. Sie sind zu laut.« Veronika musterte die Mädchen, die empört aufschnauften und die Augen verdrehten. Sie warfen ihre Haare in den Nacken wie Mähnen, scharrten mit den Füßen, klingelten mit Armbändern, und ihr Bonbongeruch wurde immer süßer, immer stechender, je länger ihr Wortwechsel mit der Bibliothekarin dauerte. »Wir haben gar nix gemacht. Der hat angefangen rumzuschreien. Der alte Knacker, der fault ja schon!« Die Wortführerin trat vor, ein rundliches Ding, kürzer gewachsen als der Rest der Meute. Ihre Lider waren grüngolden überpudert. Sie hob die Faust. »Das ist voll ungerecht, wir haben was echt Wichtiges für die Schule zu tun, und der da, das ist doch ein Penner, der macht sich hier breit und motzt dann auch noch rum!«
    Der Mann, der den Zorn der Mädchen erregt hatte, stand so dicht hinter Veronika, daß sie seinen hastigen Atem und seinen ungewaschenen Körper roch. Er war etwas kleiner als sie und umklammerte ein in fleckiges Packpapier eingeschlagenes Notizbuch. Seine hellblauen Augen waren weit aufgerissen, und ein Schweißfilm bedeckte das dreieckige Gesicht. Im Haus nannte man ihn den Grafen. Er kam fast täglich und beanspruchte nicht mehr als den zweiten Fensterplatz im linken Flügel des Hauptlesesaals, auf gleicher Höhe mit den Regalen für Jura und Wirtschaftswissenschaften. Der Blick ging hinaus auf die Grünanlage vor dem ehemaligen amerikanischen Konsulat und der Württembergischen Landesbibliothek.
    Veronika und auch ihre Lieblingskollegin

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