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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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eines Greifenschnabels entlanglaufen. Danach straffte sie sich, fuhr kurz mit den Händen durch das Haar und ging auf die Tür des Konferenzzimmers zu.

5 An der Haltestelle Charlottenplatz standen die Wartenden in einem Halbkreis auf dem Bahnsteig und fixierten den Riesenbildschirm hinter den Schienen. Manche Leute bewegten beim Lesen die Lippen. Niemand sprach. Ein kleiner Junge rannte die Rampe neben der Treppe hinunter, seine Turnschuhe knallten wie Schüsse. Aus dem Lautsprecher kam die Stimme der Ansagerin: »Bitte Vorsicht, U6 nach Möhringen fährt ein.« Veronika blieb auf der Ebene über den Bahnsteigen stehen, bis die U6 im ansteigenden Tunnel Richtung Olgaeck verschwunden war und die Nachrichtensätze wieder erschienen. Aus dem Schacht wehte ein teeriger Wind. Sie lief durch das Treppengewirr der Unterführung, zwinkernd hinter ihrer Sonnenbrille. Aus der Bäckerei strömte warmer Laugendunst. Auf der Rolltreppe zuckte Veronikas Hand vor dem fettigen schwarzen Halteband zurück, dann stand sie auf der anderen Seite der Charlottenstraße. Gegenüber ragte der blaugläserne Flügel der Musikbücherei in die wimmelnden Wege hinaus. Brüllend und glitzernd wälzten sich die Autos über die Planie. Aus der Verkehrsinsel vor dem Palais wuchs der Korallenbaum frisch und leuchtend zwischen den vertrockneten Beeten empor. In seinem rotlackierten Gezweig flatterte ein grünes Banner mit der Aufschrift ›Oben bleiben!‹
    Bei seinem letzten Besuch der Bücherei war Peter mit einem hellgrünen T-Shirt in Veronikas Büro aufgetaucht. Ein schwarzer Käfer war auf die grelle Kinderfarbe gedruckt. Darunter stand ›Oben bleiben!‹, der Sinnspruch unter einem grotesken Emblem. Es war ein träger Julinachmittag gewesen, man merkte die nahenden Sommerferien. Nur ein paar Benutzer saßen in den Lesesälen, das Telefon schwieg. Veronika brütete über einer Liste mit Erwerbungsvorschlägen.
    Peter trat lachend ein, einen verschossenen Leinenrucksack über der Schulter. »Ich stör dich nur ganz kurz, die Kinder sind draußen, spielen Verstecken auf dem Parkplatz. Sie wollten nichts ausleihen, wir lesen gerade den Rulaman. Ich hab mir Emerson mitgenommen, den alten Waldschrat.« Er hielt ein Buch hoch, sein Gesicht leuchtete rosig. Veronika sprang auf und umarmte Peter. Kopfschüttelnd beugte er sich über ihren Schreibtisch, nahm eine mit Plakafarben bemalte Klorolle in die Hand. »Daß du das alte Ding immer noch aufhebst! Es hat bestimmt den bösen Blick. Sieh nur, wie es mit den Augen rollt.« »Ein kleiner Junge hat mir das vor langer Zeit geschenkt. Er sagte, er habe es mit viel Mühe extra für mich gebastelt.«
    Peter schob seinen Rucksack mit dem Fuß unter einen Stuhl und setzte sich Veronika gegenüber. Sie unterhielten sich eine Weile über Ivo und Jörn, die vor dem Fenster zwischen den parkenden Autos herumtollten. Wenn sie rannten, flogen ihnen die dunklen Haare um die Köpfe. »Sie sehen Mia so ähnlich. Ich bin schon öfter gefragt worden, ob das überhaupt meine Kinder sind.« Er lachte, zog einen Apfel aus dem Rucksack, rieb ihn an seiner Trekkinghose blank und hielt Veronika die pockige, rote Wange der Frucht hin. Sie verzog das Gesicht. »Ohne mich, zu gesund!« Peter biß hinein, Saft spritzte, das weiße Fruchtfleisch war hellrosa marmoriert. »Du solltest wirklich probieren. ›Beauty of Bath‹, die sind schon Ende Juni reif. Weißt du, wo ich den gepflückt habe? Nicht im Etzelweg. Und nicht am Schwarzen Berg.« Kauend sprach er weiter. »Im Schloßgarten. Auf der Wiese gegenüber dem ehemaligen Busbahnhof. Ein uralter Apfelbaum mit breiter Krone. Seine Früchte schmecken wie Honig. Schillers Vater soll ihn gepflanzt haben. Und jetzt wollen sie ihn vernichten. Zusammen mit Hunderten von anderen Bäumen.«
    Veronika lehnte sich zurück und betrachtete Peters Hände. Sie waren schrundiger als sonst, mit Schwielen, Blutblasen und eingewachsenem Dreck unter den Nägeln. Weder Halbtags-Logopädie noch Gartenarbeit hinterließen solche Spuren. Er drehte den Apfel zwischen den Fingern. »Ich habe viel gearbeitet in letzter Zeit. Fünf Baumhäuser gebaut.« Er zeigte aus dem Fenster auf seine Söhne, die Ahornnasen aufsammelten und als Propeller in die Luft warfen. Mit zurückgelegten Köpfen standen sie auf einem Mäuerchen und schauten den wild kreiselnden Samenhüllen nach. »Die Kinder haben mir viel geholfen. Sie sind begeistert. So sehr, daß ich zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl habe, etwas

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