Am Schwarzen Berg
trank, vorwiegend Korn. Dabei blieb er immer still und zurückhaltend. Seine Zeit im Palais verbrachte er damit, Notizzettel, die für Benutzer neben allen Computerterminals ausgelegt waren, in längliche Streifen zu zerschneiden. Diese Papiere beschrieb er in ordentlicher Blockschrift mit Gedichtzitaten; es waren immer nur ein bis zwei Verse, die er größtenteils auswendig konnte. In Klammern setzte er Namen und Lebensdaten des Verfassers, gefolgt von einer Aufforderung: »Lies! Dieses Gedicht rettet deinen Tag!« Breitingers Spektrum reichte von den entlegensten Poeten des Mittelalters bis in die Moderne. Hatte er einen Stapel solcher Notate beisammen, wanderte er in der Bücherei umher und legte überall die Zettelchen ein. War er im Wilhelmspalais fertig, missionierte er in den Außenstellen der Stadtbücherei weiter. Von Möhringen bis Vaihingen, von Bad Cannstatt bis Freiberg kannte man seine gigantische Gestalt, das grobporige, gerötete Gesicht mit der von einem Ekzem zerfressenen Nase und dem entstellenden Bartgestrüpp.
Veronikas Freundin Cramer hatte erzählt, wie Breitinger eines Nachmittags auf dem Parkplatz an der Urbanstraße an ihrem VW-Cabrio gelehnt hatte, zwischen den Beinen seinen verschmutzten Rucksack, in der Hand einen Knotenstock, den er sonst an der Garderobe abstellte. Er bat um eine Mitfahrgelegenheit und versprach dafür »eine Rezitation von Klopstocks herrlichsten Oden, besser und tiefempfundener als jeder Hörbuchschwätzer es Ihnen, verehrte Frau Bibliothekarin, je bieten könnte«. Cramer hatte nach kurzem Zögern angenommen. »Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat. Wahrscheinlich hab ich es nur gemacht, weil es ein sonniger Tag war und ich unbedingt offen fahren wollte. War dann nicht so schlimm, bißchen wie mit einem Ziegenbock im Zwiebelbeet. Und sein Vortrag, wirklich enorm! Ich habe nie wieder etwas Ähnliches gehört:
›Cidli, du weinest, und ich schlummre sicher,
Wo im Sande der Weg verzogen fortschleicht;
Auch wenn stille Nacht ihn umschattend decket.‹«
Am Wangener Marktplatz stieg Cramers Beifahrer aus und schritt auf den Bücherbus zu, der dort silbern und gelb im Licht der Nachmittagssonne stand.
Veronika fragte sich, ob Peter wohl jetzt ebenso aussah wie Breitinger. Peter mit Bart, eine Premiere. Es war kaum vorstellbar. Ebensowenig wie die Tatsache, daß sie nicht wußte, ob es Peter gutging. Es hatte in all den Jahren immer Momente der Verunsicherung, der Sorge gegeben, aber der Faden war nie abgerissen, die Angst um ihn nie übermächtig geworden. Sie durfte am Rand seines Lebens stehen, getröstet von einem kurzen Anruf, einer Postkarte. Noch einmal griff sie zum Hörer. Am Schwarzen Berg hob niemand ab. Sie überlegte, ob sie sich krankmelden und nach Hause gehen sollte. Auch dies wäre eine Premiere.
Sabine Salucci kam in Jeansrock und gelber Sommerbluse. An ihrem rechten Nasenflügel zitterte eine silberne Libelle, ihr Gesicht glänzte. »Alles klärchen?« fragte sie. Veronika nickte nur und trat ins Treppenhaus hinaus. Ihr war flau, gerne hätte sie etwas getrunken. Unten im Büro lag die Handtasche mit dem silbernen Flachmann, ihrem Schoppele. Dieses hatte sie schon auf dem Weg in die Stadt geleert, an dem einsamen Aussichtspunkt gegenüber dem Staatsministerium. Die Villen ringsum schliefen noch, während sie hastig ein Viertel Trost herunterkippte. Emils Ausbruch hatte sie zum Zittern gebracht. Erst nach dieser kurzen Pause war sie in der Lage gewesen, ihren Arbeitstag zu beginnen.
Die Sorge um Peter, um Emil ergriff Veronika. Sie mußte sich am hölzernen Handlauf des Geländers festhalten. Im Foyer war eine Kindergartengruppe angekommen, von unten hörte sie die hellen Stimmen und das rasche Auftreten vieler Füße.
Langsam stieg sie die Treppen hoch. Die Sitzung fand im dritten Stock statt. Ihr grauste davor. Der Umzug der Bücherei in den Neubau hinter dem Hauptbahnhof war ein Punkt in Veronikas Arbeitsalltag, den sie aussparte wie ein Trauma. Sie plante sorgfältig mit, entwarf Konzepte für die reibungslose Übersiedlung der Bestände aus dem Wilhelmspalais in die ›Bibliothek des 21. Jahrhunderts‹. Der Umzug selbst aber blieb für sie unwirklich wie eine Reise ins Weltall. Die Baugrube auf der Brache an der Türlenstraße war schon ausgehoben. Ihre Kollegen hatten genaue Vorstellungen von dem neuen Gebäude, schwärmten von der Menge an Platz, die man dort haben würde, dem neuen Café. Außerdem genossen sie das
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