Am Schwarzen Berg
auch jedes Quartal weniger Stunden.«
Peter seufzte und ähnelte in diesem Augenblick dem müden Grundschüler, dem überforderten Gymnasiasten an Veronikas Küchentisch. Er streckte die Beine aus und kratzte sich am Knöchel. Seine schmutzigen Füße steckten in ausgetretenen Trekkingsandalen. »Ich hoffe, daß Emil auch mal in den Park kommt. Im Grunde sind diese Ereignisse dort der fleischgewordene Traum seiner Jugend. Verschiedenste Menschen mit demselben Ziel. Als Bürger unserer Stadt verhindern wir eine Barbarei, für die Zukunft unserer Kinder.«
Veronika legte den Kopf schief. »Übertreibst du nicht ein bißchen, Peterle?«
»Nein, im Gegenteil. Vieles erinnert mich an die Geschichten, die Emil von früher erzählt hat, und natürlich an meine eigenen Friedensdemos. Die Dinge haben eine ähnliche Energie. Außerdem ist es beglückend, mit diesen Bäumen zu leben. Das ist der pure Eichendorff, der auferstandene Mörike! Unter mehrhundertjährigen Riesen mitten in der Stadt einzuschlafen, im Rauschen des Laubes, gemischt mit dem Brausen des Verkehrs. Die Abendlieder von Nachtigall und Rotkehlchen. Die Farben des Blattwerks, wenn die Dämmerung kommt.« Er war aufgestanden und lief vor Veronikas Schreibtisch auf und ab. »Die Sterne zittern in der orangebraunen Himmelsglocke wie angesteckte Streichhölzer!« Er stützte die Arme auf der Tischplatte ab und sah Veronika in die Augen. »Weißt du, daß es im Schloßgarten 35 verschiedene Singvogelarten gibt? Ich halte Emil einen Schlafsack neben mir frei!« Veronika schüttelte lachend den Kopf: »Dein alter Emil wird sicher nicht draußen campieren. Der hat genauso viele Zipperlein wie sein Mörike.«
Peter hängte sich den Rucksack über die Schulter. »Ich muß los, die Kinder können nicht so lange allein da draußen bleiben. Ich komme bald mal wieder am Schwarzen Berg vorbei. Meine Eltern hab ich auch lange nicht gesehen. Sag Emil einen Gruß.« Er hielt inne. »Eigentlich finde ich es komisch, daß er nicht von Anfang an im Park mit dabei war. Einmal dachte ich sogar, ich hätte ihn bei einer Montagsdemo gesehen. Aber nur von hinten, in dieser typischen Emil-Haltung.« Peters Schultern fielen nach vorne, er zog den Kopf ein. Beide lachten. »Aber das war wohl eine Verwechslung. Der Mann stand nämlich Arm in Arm mit einer Frau, so einer Rothaarigen, die hat sich förmlich um ihn gewickelt. Ich habe ihm einmal eine SMS geschickt, aber er hat nur knapp geantwortet: zu viel Arbeit, er fühlt sich nicht. Muß man sich Sorgen machen?«
Veronika wollte dem führerscheinlosen Emil nicht in den Rücken fallen. Ihr Alkoholkonsum war zwischen ihnen und Peter nie ein Thema gewesen. Um abzulenken, hatte sie sich künstlich empört und mit beleidigter Stimme gefragt, warum sie selbst nicht auch ein gutes Mitglied der Widerstandsbewegung im Park sein könne. Peter zwinkerte und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nichts für dich. Ich bin mir sicher, daß du alles wahnsinnig komisch finden und dich auf das Übelste darüber lustig machen würdest. Dein Blick auf mein T-Shirt, als ich reinkam! Du paßt da nicht hin. Meine Eltern übrigens auch nicht. Denen hab ich sowieso nichts erzählt. Muddi hat ohnehin immer nur Angst um mich, und mein Vater, na, du kennst ihn ja. Da bleibt nur Emil.«
Veronika zuckte mit den Schultern. Wenn du wüßtest, was sich dein Emil alles nicht traut. Sie war verärgert über diese fortwährende Heiligsprechung und hütete sich gleichzeitig, Peter zu unterbrechen. Es war schön, daß er gekommen war, und sie genoß seine Gegenwart, wohlwissend, sie würde nicht lange dauern.
Der Besuch endete mit einem Spaziergang vom Wilhelmspalais in den Schloßgarten. Sie liefen über die Hängebrücke. Veronika schritt eingehakt an Peters Seite. Die Kinder rannten voraus und zeigten auf verschiedene Baumhäuser und ein großes Transparent: »Das hat alles unser Papa gebaut!« Sie wurden von vielen Seiten begrüßt. Über einen Tapeziertisch voller Broschüren war ein Sonnenschirm gespannt. Darunter saß auf einem Klappstuhl eine Frau in Peters Alter in einem indischen Baumwollkleid. Sie glaubte, das depressive Indianergesicht von Emils Kollegin Olga Sucher zu erkennen. Ein breiter Samthut überschattete ihre Züge. Als Veronikas Blick sie streifte, sprang sie hastig auf und verschwand hinter einem Zelt.
Am Eingang zur Klett-Passage verabschiedeten sich Peter und die Kinder. Veronika lief zurück zur Bücherei und sah sich ab und zu verstohlen
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