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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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nach den drei Gestalten um, die auf dem silbernen Rollband in die Tiefe der Unterführung glitten.
    Am Charlottenplatz rückte Veronika ihre Sonnenbrille zurecht. Wie lange war das her? Hinter dem Waisenhaus, dessen Fassade orange leuchtete, stieg die hitzezuckende Stadtsilhouette auf. Die Schieferdächer des Neuen Schlosses verschmolzen mit dem Himmel. Veronika drehte sich um und bog in die Kanalstraße ein.
    Die Kanalstraße lag im Schatten des schwarzweißkarierten Hofbräu-Hochhauses. Feist und rot blähte sich das Bierlogo an der Fassade. Vom düsteren Fuß des Turmes kroch eine Treppe empor, die zu einer Zahnarztpraxis führte. Trotz der Mittagshitze lag über der kleinen Zeile der aus dem 17. Jahrhundert übriggebliebenen Handwerkerhäuser eine diesige Kühle. Dreistöckig, schmalbrüstig, mit Holzläden an den Fenstern standen sie nebeneinander. Ihre neuen Anstriche und die einfallslose Häßlichkeit der Nachbarschaft schienen sie mit Fassung zu ertragen.
    Veronika steuerte auf das letzte Haus in der Reihe zu. Kleiner und breiter als der Rest, trug es als einziges dunkle Fachwerkstreifen über seinem schiefen Leib. Das Untergeschoß war aus Sandsteinblöcken gemauert. Das moosige Satteldach hing tief herab. In den Balken über der Tür war eine lange Schlange geschnitzt. Sie trug eine goldene Krone und ließ ihre gespaltene Zunge in einen Napf hängen. Neben dem Reptil hockte ein pausbäckiger Bub und schlug dem Tier mit einem Löffel auf den Kopf. Die Schlange schien das nicht zu stören. Um ihr breites Maul spielte das gleiche zufriedene Grinsen, das auch auf dem furchtlosen Kindergesicht lag. Der Besitzer der Weinstube ›Zur Schlange‹ behauptete, von jenem Jerg Aberlin abzustammen, der zu Zeiten des Grafen Eberhard im Bart als armer Seiler hinter der Leonhardskirche lebte. Der Sage nach hatte der verwitwete Mann seinen kleinen Sohn morgens mit einer Schale Milch auf der Ofenbank zurückgelassen. Eines Tages sah er, daß der Knabe eine weiße Schlange mit Goldkrone auf dem Schoß hielt, die gierig aus seiner Schüssel mitaß. Aberlin erschlug das Tier, kaufte von dem Geld, das er für die Krone erhielt, Land und Weinberge und baute das Haus ›Zur Schlange‹, wo er eine Wirtschaft eröffnete.
    Jeder Stuttgart-Reiseführer verzeichnete die Weinstube mit ihrem holzgetäfelten Schankraum, aus dem man über ein Dutzend ausgetretener Stufen in einen weitläufigen Gewölbekeller hinuntersteigen konnte. Sie galt als »einer der letzten, vom Zweiten Weltkrieg verschonten Orte mit romantischer Atmosphäre«.
    Veronika studierte die Tafel vor dem Eingang. ›Heute Kutteln. Dazu Ackersalat.‹ Otto saß im Halbschatten an einem Tischchen. Er hatte ein Buch vor der Nase und schaute nicht auf. Neben ihm stand ein bleicher Käsekuchenkeil, getupft mit neonfarbenen Dosenmandarinen. Wie viele hast du heute schon gehabt, dachte Veronika und blieb vor dem Tisch stehen. Der Mann blickte nicht hoch. Als er umblätterte, blitzte ein schwerer Ehering auf. Schließlich nestelte er einen schmalen, in Blockbuchstaben beschriebenen Papierstreifen aus dem hinteren Einband und legte ihn sorgfältig zwischen die Seiten. Bevor er den Buchdeckel schloß, streichelte er kurz und bedauernd darüber. Erst dann hob er langsam den Kopf.
    »Veronika.« Otto lächelte und zeigte winzige rundgeschliffene Vorderzähne, die Veronika an Milchreiskörner erinnerten. Sein Mund war klein und rosig, die Unterlippe stand etwas vor wie bei einem schmollenden Kirchenengel. Der Rest entsprach dem Gelehrtenklischee: eine dickverglaste Stahlbrille, die herunterhängenden Wangen, ausgeblichen von der Dunkelheit in Mikrofiche-Leseräumen und Archivkellern. Am Kinn saßen die Schnittwunden einer unachtsamen Morgenrasur. Die runden braunen Augen wurden durch die Brille noch vergrößert. Ottos Haar war schulterlang und grau, es umkränzte eine stattliche Halbglatze, die er ›seine Tonsur‹ nannte.
    Jetzt erhob er sich, leise stöhnend, und bot Veronika einen Stuhl an. Während sie, ohne jeden Appetit, nur aus Sorge um seine Gesundheit, den Teller zu sich herüberzog und hastig den Kuchen verschlang, stand Otto neben ihr und reckte sich. Er war sehr groß. Der Bauch hing schwer über den Gürtel. Veronika wußte, daß er Schmerzen hatte. Als Oberschüler in Frankfurt hatte er einen Unfall mit dem Motorroller; davon war ein Hüftschaden zurückgeblieben.
    Veronika schob den Teller weg und schüttelte sich: »Schreckliches Zeug. Warum hast du nicht die

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