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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Sie alle wurden von der großen, unangreifbaren Ruhe eingehüllt, die hier herrschte und von den Tausenden und Abertausenden von Büchern bewacht wurde. Dicht an dicht postierten sie auf ihren Plätzen und bewachten jene, die hinter ihren bunten Rücken Schutz suchten. Normalerweise feierte Veronika diese Momente, in denen das Schweigen als ungeheure stumme Glocke durch die Bücherei schwang. Heute konnte sie es kaum aushalten. Wieder nahm sie den Telefonhörer ab und hackte ihre eigene Nummer in die Tastatur. Eine lautstark flüsternde Frauengruppe drängte durch die Glastür, zwei Kolleginnen liefen im notdürftig gedämpften Gespräch vorbei: »Und der ganze Wagen da vorne muß zurück in die Buchpflege, da ist wieder nichts geschehen.« Irgendwo fiel klatschend ein Band zu Boden. Veronika lauschte auf das Freizeichen am anderen Ende und legte schließlich auf.
    Sie sah hoch. Oswald Börensen war an ihren Tisch getreten. Sie verabscheute das schiefe Grinsen des Bibliothekars, die Schweißflecken, die an den Achseln seines Sommerhemdes hervorsuppten, den Grützbeutel unter seinem linken Auge. Er grüßte knapp, ohne ihr richtig ins Gesicht zu sehen. Die graue Iris hatte einen gelben Ring wie bei einem Reptil. »Frau Bub-Beyer, wir haben eine Sitzung einberufen, wegen des Umzugs. Es gibt Unklarheiten bezüglich des Organigramms, das Sie für die Belletristik entworfen haben. In zehn Minuten im Konferenzzimmer. Frau Salucci wird Sie gleich ablösen.« Börensen drehte sich auf dem Absatz um und schlich davon, nicht ohne ein kurzes Kopfschütteln in Richtung des Grafen hinüberzuschicken, der träumerisch aus dem Fenster blickte und sich mit dem Bleistift den weißen Schopf kratzte. Veronika vermutete, daß Börensen der wahre Urheber jenes geheimen Papiers war, das angeblich aus der Stadtverwaltung stammte und seit einiger Zeit im Haus kursierte: ›Obdachlose in öffentlichen Gebäuden – Möglichkeiten und Grenzen der Zumutbarkeit‹.
    Als Veronika im Wilhelmspalais angefangen hatte, zeigte sich vielleicht alle paar Monate ein zauseliger Herr, der den Schutz der Bücherei, ihre Toiletten, Wasserhähne und bequemen Stühle nutzte, um dem gewaltsamen Leben auf der Straße stundenweise zu entgehen. Inzwischen kam täglich fast ein Dutzend Männer, alterslos, mit unrasierten Gesichtern, schmutzigen Mänteln und abgestoßenen Jacketts. Die meisten von ihnen blieben im Foyer, wo sie sich durch die Tageszeitungen arbeiteten, leise unterhielten oder Schach spielten. Einige von ihnen lasen ausländische Blätter und saßen nach der Lektüre oft mit gesenkten Köpfen beieinander, niedergeschlagen von schlechten Nachrichten aus ihrer verlorenen Heimat, flüsternd über die eigene Machtlosigkeit, die schwächliche Rolle des Zuschauers, weit weg in einem fremden Land.
    Über die Wintermonate verschwanden die meisten zur Mittagszeit in der nahen Leonhardskirche, wo es eine Suppenküche gab, und kehrten für den Rest des Tages nicht mehr in das Palais zurück. Wenn es wärmer wurde, konnte man sie in den Abfallkörben und Gebüschen rings um Bücherei und Landesbibliothek wühlen sehen. In der Sonne schimmerten überall Plastikflaschen und verschafften den Sammlern ein kleines Zubrot.
    Doch die Zeitungsleser waren unproblematisch. Sie blieben im Foyer und gingen dort im allgemeinen Gewühl des Leihverkehrs, der Schlange vor der Rückgabetheke, dem Hin und Her zwischen den Räumen der Kinder- und Jugendbücherei unter. Um so stärker störten sich viele Kollegen und Benutzer an jener kleinen Schar, die tatsächlich über die schwarze Treppe ins Innere der Bücherei vordrang.
    Veronika hatte schon viel Unmut ausgelöst, weil sie dafür eingetreten war, jenes Grüppchen von Menschen, das sich täglich in die Mauern des Wilhelmspalais flüchtete, einfach in Ruhe zu lassen. »Robert Walser oder Hölderlin hätten Sie wohl auch Hausverbot erteilt!«, hatte sie bei einer außerordentlichen Sitzung gegiftet und damit tatsächlich erreicht, daß der Graf und seine Artgenossen zähneknirschend hingenommen wurden. »Diese Männer riechen auch nicht strenger als mancher Universitätsprofessor und arbeiten mindestens genauso ernsthaft. Nehmen Sie Herrn Breitinger. Den meisten unter Ihnen ist er nur als Rübezahl geläufig. Sie werden keine Zeile deutscher Lyrik finden, die dieser Mensch nicht gelesen hat.«
    Breitinger war riesig, ungepflegt, furchteinflößend langbärtig und sommers wie winters eingeknöpft in einen grünen Lodenmantel. Er

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