Am Schwarzen Berg
verändern zu können. Ich muß mich nicht damit abfinden, nur im kleinsten Kreis gegen den Strom zu schwimmen. Du weißt schon, man ist Vegetarier, Waldläufer, Konsum- und Schulverweigerer, aber im Grunde ein armes Würstchen. Ein alternativer Kasper ohne Einfluß, der Rad fährt und Ökowaschpulver benutzt.«
Wieder biß Peter ein Stück Apfel ab und begann, von einem Sonntagsspaziergang im Schloßgarten zu erzählen. Er sei dort gewesen, um Ivo und Jörn die schwarzen Löwen am Akademiebrunnen zu zeigen, die so grimmig die Augenbrauen zusammenzögen. Eigentlich habe er den Kindern am Bahnhof nur noch ein Eis kaufen und dann schnellstens aus dem Innenstadtwahnsinn zurück nach Heslach fahren wollen.
Er drehte den inzwischen abgenagten Butzen zwischen seinen zerschundenen Fingern. »Dann standen wir im Schloßgarten. Der Park war nicht wiederzuerkennen. Transparente hingen zwischen den Ästen, Baumhäuser saßen in den Kronen. Überall Zelte, Fahnen, Blumen. Wollgespinste im Gezweig wie bunte Spinnennetze. Stofftiere waren um die Stämme gebunden. Kerzen standen im Gras, Unmengen von roten Grablichtern, jeder Baum ein Altar. Von Schnüren hingen Plakate, Zeitungsausschnitte, handgeschriebene Zettel. Eine Atmosphäre wie auf dem Jahrmarkt: Die Leute redeten, stritten, verteilten Flugblätter. Bongos und Gitarrenmusik, Gesang. Menschen überall, auf dem Rasen, auf den Wegen. Manche zogen Rollkoffer hinter sich her, kamen direkt vom Bahnhof, um sich hier umzusehen. Die machten große Augen, genau wie ich. Natürlich hatte ich über die Bürgerbewegung gegen den Bahnhofsneubau in der Zeitung gelesen. Meine Patienten sprachen davon, die Eltern im Kindergarten auch. Aber hier war die Wirklichkeit. Die Jungs zogen mich zu einem Infostand. Es gab dort Anstecker, ein Baum als geballte Faust. Ich unterhielt mich lange mit einer alten Frau. Sie legte ihre Hand mit den beiden goldenen Eheringen auf den gefleckten Stamm einer Platane und erzählte uns, diese Bäume seien im Krieg in Flammen gestanden. Sie selbst habe als junge Frau Wassereimer durchgereicht, um das Feuer zu löschen. Mit Leib und Leben sei sie für diese Bäume eingestanden, und genau das wolle sie jetzt wieder tun.«
Peter zielte mit dem Apfelbutzen auf Veronikas Papierkorb. Er flog in hohem Bogen darüber hinweg und landete neben dem Schreibtisch, doch er achtete nicht darauf und sprach weiter. Seine Augen glänzten. Die Erkenntnis, daß hier etwas vernichtet werden solle, das er schon immer gekannt habe, sei durch ihn hindurchgegangen wie ein Blitzschlag. Die Liebe, die er auf einen Schlag zu den Bäumen, der ganzen Anlage verspürt habe, sei ungeheuer stark gewesen. Plötzlich habe er den Park mit anderen Augen gesehen. Durch den Schmuck, die Kerzen habe die Umgebung etwas Sakrales bekommen. Die Kinder und er hätten sich an den Händen genommen und versucht, den Stamm der riesigen Platane zu umfassen. Aber es sei ihnen nicht gelungen. Da sei die alte Frau hinzugetreten, und gemeinsam hätten sie den Kreis geschlossen. Seither sei er fast jeden Tag im Park, auch nachts. Oft nehme er Ivo und Jörn mit, die fänden das großartig.
Peter hob seine Hände und drehte sie vor Veronikas Gesicht. »Das ist doch etwas anderes als das fruchtlose Getue in der Praxis. Da verzweifelt man wirklich. Gestern kam wieder so ein Frauenzimmer. Schulterlanges Blond, Stöckelschuhe, Kostümchen, das typische Killesberg-Baby. Sie sei Anwältin und zahle privat. Sie schob einen kleinen Jungen vor sich her, der verängstigt aus seinem Karohemd schaute und mir nach einem Rippenstoß das Pfötchen gab. Er flüsterte: ›Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.‹ Seine Mutter beklagte sich darüber, daß er eine ›unsaubere, undeutliche Aussprache‹ habe. Im nächsten Schuljahr wären Präsentationen vor der Klasse zu halten, Buchvorstellungen und Expertenthemen, mit Beamer und so weiter. Ich solle ihn ›coachen‹, damit er ›eine bessere Performance liefere‹.« Peter schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr gesagt, das gehöre nicht zu meinem Fachgebiet. Eva war ziemlich verärgert. Privatpatienten sind ihr heilig. Und auf der anderen Seite meine Kassenkids. Wenn die lachen, stehen die schwarzen Zähne nebeneinander, als ob sie den ganzen Mund voller Lakritz hätten. Der Freifahrschein in die Chancenlosigkeit. Meistens brechen sie die Therapie nach der Hälfte ab, weil sie keine Lust mehr haben oder ihre Eltern sie einfach nicht länger zu uns bringen. Und die Kassen bewilligen
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