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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Triumphgefühl, daß ein neues Hochhaus mitten in der Stadt keine Bank, sondern eine Bibliothek sein durfte.
    Veronika beteiligte sich an ihren begeisterten Gesprächen nur mit Achselzucken. Selbst Cramer gegenüber wollte sie nicht zugeben, wie sehr sie diese Zukunftsaussichten verstörten. Sie konnte sich nicht vorstellen, das Palais für immer zu verlassen. Ihr Büro lag im Erdgeschoß, mit Blick auf den Parkplatz. Die Fenster waren von den Topfpflanzen ganzer Bibliothekarinnengenerationen verstellt. Ein riesiger Christusdorn stammte noch aus dem Einzugsjahr der Stadtbücherei 1965. Gelbweißer Kalk verkrustete den Topf ringsum. Die dornigen Zweige liefen reptilienartig am Sims entlang und wucherten die Scheibe hoch. Im Winter brachen Hunderte von blutroten Blüten aus dem holzigen Stamm. Angeblich hatte die Pflanze der legendären Marietta Moller gehört, die jenen klugen und boshaften ›Leitfaden für das saubere Gesicht einer öffentlichen Bücherei nach dem Dritten Reich‹ verfaßt hatte. In Stuttgart hatte das Werk keinen Verleger gefunden und kursierte noch zu Veronikas Anfängerzeit als Loseblattsammlung.
    Ein Ausblick ohne den Christusdorn der Moller war für Veronika nicht denkbar, ebensowenig wie die Vorstellung, nie wieder im Frühlingslicht auf der königlichen Balustrade zu rauchen und dabei über die blühenden Magnolien- und Kirschbäume vor dem Altbau der Allianz-Versicherung zu schauen, nie wieder zwischen den Säulen einzutreten in das vertraute Innere, umgeben vom wachsigen Geruch der Schutzumschläge und der feierlichen Weite, die der umgebaute Palast noch immer ausstrahlte. Veronika kannte jeden Kratzer im Lack des Treppengeländers, jedes Ornament, das dem träumenden Auge aus der Maserung der Wandverkleidung im Foyer entgegentrat.
    Am meisten fürchtete sie sich davor, mit dem Palais den Ort zu verlieren, an dem Peter nur ihr gehört hatte und nicht Carla, nicht Hajo, nicht Emil. Hier war die Süßigkeitenschublade, hier waren die Bücherregale, in die er im Laufe der Jahre immer gieriger gegriffen hatte, hier hatten sie sich gegenübergesessen, häufig erschrocken über seine Klausuren gebeugt: graues Recyclingpapier, eng beschrieben mit Peters unruhiger Handschrift, verschmierter Kugelschreiber und am Rand die feinen roten Ziffern des Lehrerstifts: 0 Punkte. Peters Gesicht war blaß und enttäuscht gewesen: »Bio, Englisch, Mathe, Physik, es ist immer dasselbe. Ich pack es einfach nicht.«
    Veronika verharrte kurz unter dem milchigen Riesenauge des Oberlichts. Im Treppenhaus stand zwischen den Regalen mit Lyrik und den Werkausgaben ein Sofa mit schmunzelnden Greifengesichtern an den Armlehnen. Es stammte angeblich aus Mörikes Lorcher Wohnung und war der Bücherei von einem anonymen Spender neu aufgepolstert übergeben worden – mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es nicht nur als Antiquität bewundert, sondern auch benutzt werden solle. Selten saß jemand dort. Ob die Greifen abschreckend wirkten oder die umstehende Lektüre, wußte keiner. Das Möbel wurde gemieden, während seine Wächter in unverbrüchlicher Freundlichkeit geradeaus schauten. Ihre scharfen Schnäbel, die gefiederten Köpfe waren mit größter Sorgfalt geschnitzt. Erst Breitinger hatte sich getraut, das Sofa in Besitz zu nehmen. Er leierte mit seinem Gewicht die Federung aus, massierte die Tierköpfe wie Handschmeichler, bis ihre waldhonigartige Patina glänzte. Immer lehnte er in der linken Ecke, stützte den mächtigen Schädel in die Hand und schichtete auf dem Fußboden ringsum Bücherstapel in unterschiedlicher Höhe auf wie ein Kind seine Bauklötze.
    Cramers Fahrt in Breitingers Begleitung hatte kurz nach Fasching stattgefunden. Seither hatte niemand von ihnen den Mann wiedergesehen. Erst kürzlich hatte Börensen mit höhnischer Hoffnung vermutet, Rübezahl sei endlich der Leberzirrhose erlegen. Immer wenn Emil das Auto nahm, trödelte Veronika nach der Arbeit länger als nötig durch die Klett-Passage in den orangefarben verkleideten Eingeweiden des Hauptbahnhofs herum. Sie ließ sich von den Fahrkartenautomaten zum ›Holländischen Blumenkönig‹ und weiter zum Reformhaus treiben, suchte Breitingers hünenhafte Gestalt in den Gruppen der Obdachlosen und Punker, die mit ihren Hunden, Schlafsäcken und Instrumenten kleine Inseln der Verweigerung im Gewühl bildeten. Aber sie konnte ihn auch dort nicht entdecken.
    Veronika trat an das Sofa und ließ ihren Zeigefinger vorsichtig den lächelnden Schwung

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