Am Seidenen Faden
erst geraten, mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern? Wie kam sie dazu, dieses fremde Mädchen in unseren Wagen zu holen? Wußte sie nicht, wie gefährlich es war, Anhalter mitzunehmen?
»Das ist Patsy«, erklärte Jo Lynn. »Patsy, das ist meine Schwester Kate.«
»Hallo, Kate«, sagte das Mädchen, ehe es einen Riesenbiß vom Cheeseburger meiner Schwester nahm und ihm einen tiefen Zug aus dem Colabecher folgen ließ. »Danke, daß ihr mich mitgenommen habt.«
»Wohin willst du denn?« fragte ich einigermaßen höflich, während ich innerlich zusammenzuckte, als meine Schwester den Strohhalm in ihren Mund schob, aus dem eben die junge Fremde getrunken hatte.
»Irgendwohin«, antwortete Patsy brummig. »Es ist ziemlich egal.«
»Patsys Freund ist ohne sie abgehauen«, erläuterte Jo Lynn.
»Der Idiot«, sagte Patsy.
»Wo wohnst du?« fragte ich.
Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich selber nicht«, antwortete sie. »Nirgends wahrscheinlich.«
Ich fand diese Antwort ziemlich unbefriedigend. »Und woher kommst du?«
»Fort Worth.«
»Fort Worth? Fort Worth, Texas?«
»Da bist du wohl tief beeindruckt, was, Katy«, sagte meine Schwester. »Gib dem Mädchen doch gleich’ne Goldmedaille.«
»Wie bist du bis hierher gekommen?« fragte ich, bemüht, zu meinem normalen Ton zurückzufinden.
»Mit dem Auto«, lautete die gleichgültige Antwort. Patsy griff über den Sitz und grapschte eine Handvoll Pommes frites aus dem Pappbehälter, den meine Schwester ihr hinhielt.
Im Rückspiegel sah ich, wie sie sich in den Sitz zurückfallen ließ, die Pommes frites in den Mund stopfte und dann die Augen schloß, die dick mit schwarzem Kajalstift umrandet waren.
»Zusammen mit deinem Freund?« fragte ich trotz des Blicks meiner Schwester, der mir zu schweigen gebot.
»Ja, mit diesem blöden Idioten.«
»Und was ist mit deinen Eltern?«
»Kate, das geht dich doch nichts an«, warf Jo Lynn ein.
»Wissen deine Eltern, wo du bist?« beharrte ich.
»Das ist denen doch egal.«
»Weißt du das so genau?«
Patsy lachte, aber ihr Lachen klang hohl, schmerzlich, fand ich. »Ich hab meinen Vater nicht mehr gesehen, seit ich ein kleines Kind war, und meine Mutter hat inzwischen einen neuen Freund und ein Baby. Die hat wahrscheinlich noch gar nicht gemerkt, daß ich weg bin.«
»Wann bist du denn weg?«
»Vor zwei Wochen.«
Ich mußte sofort an Amy Lokash denken, sah ihre Mutter Donna vor mir, wie sie bei ihrem ersten Besuch in Tränen aufgelöst
in der Tür meiner Praxis gestanden hatte. »Hast du sie wenigstens angerufen? Weiß sie, daß dir nichts passiert ist?« Auch ohne Patsy anzusehen, sah ich den Widerstreit der Gefühle – Trotz, Verlassenheit, eigensinniger Stolz -, der sich in ihrem Inneren abspielte.
»Nein, ich hab sie nicht angerufen.«
Findest du nicht, daß du das tun solltest? hätte ich am liebsten geschrien, tat es aber nicht, da ich wußte, daß ich damit nur eine Abwehrhaltung hervorrufen würde. »Möchtest du es denn?« fragte ich statt dessen.
Patsy schwieg ein paar Sekunden lang. »Ich weiß nicht.« Sie drehte sich zur Seite und drückte ihre Stirn an das Fensterglas.
»Warum gehst du nicht einfach zum nächsten Telefon, rufst zu Hause an und sagst deiner Mutter, daß du gesund bist und es dir gut geht?« fragte ich.
»Wozu denn?« entgegnete Patsy mürrisch. »Sie schreit mich ja doch nur an und erklärt, daß sie mit Tyler von Anfang an recht gehabt hat.«
»Und deshalb rufst du nicht an?«
»Ich will das nicht schon wieder hören.«
» Hatte sie denn recht mit Tyler?«
»Ja«, kam es kaum hörbar und widerstrebend vom Rücksitz.
»Und deswegen läßt du dich jetzt total von Tyler beherrschen oder was?« fragte ich nach einer kurzen Pause.
»Tyler ist doch der Idiot, stimmt’s?« fragte Jo Lynn, und ich lächelte, dankbar für ihre Unterstützung.
»Na ja, vielleicht ruf ich sie ja an«, meinte Patsy und nahm sich noch ein paar Pommes frites. »Ich werd’s mir überlegen.«
»Brauchst ja nur anzurufen und zu sagen, daß dir nichts passiert ist«, fuhr ich fort, in Gedanken wieder bei Donna Lokash, und wünschte aus tiefstem Herzen, daß Amy nur eine ähnliche Dummheit gemacht hatte wie Patsy, daß sie in diesem Moment irgendwo durch die Gegend trampte, ohne an den Schmerz und die Angst zu denken, die sie ihrer Mutter verursachte. Aber am Leben.
Ich mußte aufsteigende Tränen zurückdrängen, als ich darüber nachdachte, wie fremd unsere Kinder uns wurden. E. T., zu
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