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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Hause anrufen, dachte ich.
    Schweigend fuhren wir weiter. Jo Lynn schlürfte ihre Cola zu den Rhythmen von Garth Brooks und Shania Twain, reichte schließlich den Becher und das, was von ihrem Cheeseburger und den Fritten noch übrig war, nach hinten. Der Essensgeruch durchzog das Auto, setzte sich in die Polster und erinnerte mich daran, daß ich seit dem Mittagessen nichts mehr zu mir genommen hatte. Ich hätte mir an der Tankstelle doch etwas mitnehmen sollen. Wir würden erst kurz vor Mitternacht unser Motel in Starke erreichen.
    »Hey!« rief Patsy plötzlich hochschnellend. Sie beugte sich zu uns nach vorn und wies aufgeregt zum Straßenrand. »Bei der nächsten Ausfahrt geht’s nach Disneyworld.«
    »Wir fahren aber nicht nach Disneyworld«, sagte ich.
    »Wohin fahren Sie denn?« Sie war offensichtlich überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, daß es andere Möglichkeiten geben könnte.
    »Wir fahren nach Starke«, antwortete ich.
    »Starke? Wo ist denn das?«
    »In Bradford County, zwischen Gainesville und Jacksonville«, erklärte meine Schwester.
    »Ich will aber nicht nach Starke«, sagte Patsy, die in diesem Moment große Ähnlichkeit mit Sara hatte. »Ich will nach Disneyworld. Da wollten Tyler und ich hin, bevor wir diesen blöden Streit hatten.«
    »Warum fährst du nicht lieber mit uns weiter?« meinte ich. »Dann kannst du deine Mutter vom Motel aus anrufen …«
    »Nein, ich will nach Disneyworld«, beharrte Patsy. »Das ist der einzige Grund, warum ich überhaupt nach Florida gekommen bin. Halten Sie einfach irgendwo da vorn an und lassen Sie mich raus. Das letzte Stück kann ich trampen.«
    »Weißt du nicht, wie gefährlich es ist, per Anhalter zu fahren?« begann ich und hielt inne. Hatte es irgendeinen Sinn, mir ihr zu
diskutieren, zu versuchen, vernünftig mit ihr zu reden und sie umzustimmen? Ich setzte den Blinker, fuhr den Wagen an den Straßenrand und hielt an.
    »Ich finde das nicht gut«, sagte Jo Lynn plötzlich. »Auf den Straßen wimmelt’s doch von Irren, die nur darauf warten, junge Mädchen aufzugabeln.« Ich weiß nicht, ob Jo Lynn sich bewußt war, wie merkwürdig diese Warnung gerade aus ihrem Mund klang.
    »Ach, mir passiert schon nichts«, erklärte Patsy mit der ganzen Arroganz der Jugend. »Vielen Dank noch mal, daß ihr mich mitgenommen habt, und für das Essen und so.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Ich ruf meine Mutter an, wenn ich in Disneyworld bin.«
    »Ja, vergiß es nicht«, sagte ich und sah im Rückspiegel, wie Patsy bereits ihren Daumen in die Luft streckte. Ich fuhr los, ehe jemand anhielt, um sie mitzunehmen.
    »Wieso hast du sie einfach aussteigen lassen?« fragte meine Schwester ärgerlich, ganz unerwartet den Part mütterlicher Fürsorge übernehmend, der normalerweise der meine war. »Wieso hast du sie nicht aufgehalten?«
    »Hätt ich sie denn gegen ihren Willen festhalten sollen? Soviel ich weiß, erfüllt das den Tatbestand der Entführung.«
    »Sie ist minderjährig, Herrgott noch mal. Wie konntest du sie einfach so gehen lassen? Hast du denn keine Angst, daß ihr was passiert?«
    Ich dachte an Amy Lokash, an Sara, Michelle, meine Mutter, ja, auch an Jo Lynn. Die Frauen in meinem Leben zogen an meinem geistigen Auge vorüber. »Man kann eben nicht jeden retten«, sagte ich.

21
    Punkt halb neun verließen wir am nächsten Morgen das Motel, um ins Gefängnis zu fahren. Besuchszeit war von neun bis drei, und Jo Lynn wollte nicht eine Minute dieser sechs Stunden versäumen. Das Zuchthaus lag nur achtzehn Kilometer westlich von Starke an der Staatsstraße 16, aber sie wußte aus Erfahrung, daß wir ungefähr zwanzig Minuten brauchen würden, um sämtliche Tore zu passieren und die verschiedenen Überprüfungen und Durchsuchungen zu überstehen. Deshalb war es absolut notwendig, spätestens um halb neun loszufahren.
    Als Jo Lynn mich an diesem Morgen um halb acht weckte, war sie bereits fix und fertig, geduscht, geschminkt, die blonde Haarpracht zu ungebärdiger Fülle gefönt, weiß gekleidet in Minirock und knappes Oberteil. Ich wankte verschlafen durch das Zimmer mit den schweren roten Vorhängen und den purpurfarbenen Bettüberwürfen und konnte es kaum fassen, daß ich so gut geschlafen hatte. Zum erstenmal seit Monaten hatte ich die Nacht durchgeschlafen – keine Träume, keine lästigen Gänge zur Toilette. Kam es daher, daß ich von der langen Fahrt so erschöpft gewesen war, sowohl seelisch als auch körperlich? Oder kam es daher, daß

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