Am Seidenen Faden
Menschen, von denen viertausend in Starke leben, das auch Kreishauptstadt ist. Raiford ist noch kleiner.«
»Mein Gott, woher weißt du denn das alles?«
»Bist du beeindruckt?«
»Ja«, antwortete ich aufrichtig.
»Wärst du auch beeindruckt, wenn ich dir sagte, daß ich mir das alles ausgedacht habe?«
»Du hast es dir ausgedacht?«
»Nein«, gab sie widerstrebend zu. »Aber ich wollte, ich hätte es mir ausgedacht. Der Manager von dem Motel, in dem ich immer wohne, hat mir das alles erzählt.«
»Was weißt du sonst noch?«
»Über dieses Gebiet hier?«
Ich nickte, obwohl mich meine Schwester viel mehr faszinierte als die Fakten, die sie mir vortrug.
»Starke ist knapp vierzig Kilometer vom nächsten Flughafen entfernt, der sich in Gainesville befindet, und es gibt im Umkreis von neunzig Kilometern drei Universitäten, drei Volkshochschulen und zwei Berufsschulen.«
»Ganz zu schweigen von der staatlichen Strafvollzugsanstalt«, fügte ich hinzu.
»Es gibt fünf Strafvollzugsanstalten zwischen Starke und Raiford«, sagte sie in belehrendem Ton. »Erstens, das North Florida Reception Center für neu eingetroffene Häftlinge aus dem Norden; zweitens, das Central Florida Reception Center; drittens, das South Florida Reception Center; viertens, das Gefängnis in Union, das liegt gleich gegenüber vom staatlichen Gefängnis, auf der anderen Seite des Flusses. Wenn da ein Platz frei wird, wird Colin wahrscheinlich dort hinverlegt werden.«
»Ich dachte, er sei im Todestrakt.«
Obwohl Jo Lynn mich nicht ansah, spürte ich ihren Zorn. »Es gibt in beiden Anstalten Todestrakte«, sagte sie langsam und bitter. »Aber die Hinrichtungen finden im staatlichen Gefängnis statt. Wenn Colin hingerichtet werden sollte, und das wird bestimmt nicht der Fall sein, dann müßte er wieder zurückverlegt werden.«
»Was ist denn mit seiner Berufung?« Der Oberste Gerichtshof von Florida, der automatisch alle Todesfälle prüft, hatte Colin Friendlys Urteil bereits bestätigt.
»Die Anwälte gehen mit ihrer Berufung vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten.«
»Und wenn die Berufung abgelehnt wird?«
»Dann besteht die Möglichkeit einer Anhörung vor dem Gouverneur und seinem Kabinett. Wenn diese Anhörung abgelehnt und das Todesurteil vom Gouverneur unterschrieben wird, wenden wir uns mit einem zweiten Antrag an den Obersten Gerichtshof von Florida, mit der Begründung, daß neues Beweismaterial vorliegt.«
»Auch wenn das nicht stimmt?«
»Wenn dieser Antrag abgelehnt wird«, fuhr Jo Lynn fort, ohne auf meine Frage einzugehen, »werden die Anwälte behaupten, daß dem Angeklagten kein gerechter Prozeß gemacht worden sei und daß er das Recht auf ein neues Verfahren habe. Wenn das schiefgeht, wenden wir uns ein drittes Mal an den Obersten Gerichtshof
von Florida und stellen einen Antrag auf Hinrichtungsaufschub.«
»Und wenn das fehlschlägt?«
»Sehr ermutigend bist du nicht gerade.« Jo Lynn straffte die Schultern und umfaßte das Lenkrad fester. »Wenn das fehlschlägt, gehen wir vors Berufungsgericht und erklären dort, daß der Angeklagte einen Hinrichtungsaufschub verdient oder daß das Urteil ungerecht ist. Wenn das Berufungsgericht sich weigert, etwas zu unternehmen, wenden wir uns an die nächsthöhere Instanz in Atlanta und beantragen dort Exekutionsaufschub. Und wenn das auch nicht klappt«, sagte sie leise, »bleibt noch die Möglichkeit einer letzten Beschwerde beim Obersten Gerichtshof. Wenn das nichts hilft, kommt Colin auf den elektrischen Stuhl. Soll ich dir darüber auch was erzählen?« fragte sie und fuhr zu sprechen fort, ehe ich etwas dagegen einwenden konnte.
»In Florida wurde der elektrische Stuhl zum erstenmal neunzehnhundertvierundzwanzig eingesetzt. Vorher wurden die Leute gehängt. Zwischen neunzehnhundertvierundzwanzig und neunzehnhundertvierundsechzig, als die Hinrichtungen vorübergehend eingestellt wurden, weil die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe angezweifelt wurde, wurden in Florida hundertsechsundneunzig Menschen auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Der Älteste war neunundfünfzig; die jüngsten drei waren sechzehn Jahre alt. Zwei Drittel der Hingerichteten waren Schwarze. Im September neunzehnhundertsiebenundsiebzig wurde die Vollstreckung der Todesurteile wiederaufgenommen, und heute sitzen mehr als dreihundertvierzig Häftlinge im Todestrakt.
Der Henker, ein Mensch, dessen Identität niemals preisgegeben wird, wird aus einer ganzen Schar von
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