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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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vergessen, der uns, mit dem Gewehr in der
Hand, vom Wachturm hoch über unseren Köpfen beobachtete. Als wir uns dem Tor näherten, öffnete es sich, und wir gingen hindurch. Sofort schloß es sich wieder hinter uns, und mir wurde ziemlich mulmig. Ein weiteres Tor öffnete sich geräuschvoll und lockte uns weiter ins Innere. Wir sind auf dem Weg in die Hölle, dachte ich, als ich das zweite Tor hinter uns zuschlagen hörte und meiner Schwester auf dem betonierten Gehweg zum Gefängnis selbst folgte.
    Ich kann mich weder erinnern, die Tür aufgestoßen zu haben, noch über die Schwelle getreten zu sein. Das einzige, woran ich mich erinnere, ist, daß ich in einem kleinen Warteraum stand und einen Mann anstarrte, der groß und kräftig in einer verglasten Zelle vor einer verwirrenden Schalttafel saß und Jo Lynn entgegenlächelte, als sie zielstrebig auf ihn zuging. »Hallo Tom«, sagte sie unbefangen.
    »Hallo, Jo Lynn, wie geht’s denn heute?«
    »Gut, danke, Tom«, antwortete Jo Lynn. »Ich möchte Sie mit meiner Schwester Kate bekanntmachen.«
    »Hallo, Kate«, sagte Tom.
    »Hallo, Tom«, erwiderte ich die Begrüßung.
    »Sie kennen ja den Ablauf«, sagte Tom zu Jo Lynn.
    »Na klar«, bestätigte Jo Lynn und überreichte ihm ihre Handtasche und die Kühltasche.
    Die nächsten zehn Minuten brachte Tom damit zu, jeden einzelnen Gegenstand in unseren diversen Taschen zu begutachten. Er inspizierte den Inhalt der Kühltasche, packte die Käsestücke aus und zerbrach sie in kleinere Teile, klappte die Geflügelsalatsandwiches auf und prüfte den Belag, ehe er sich unsere Handtaschen vornahm, unsere Führerscheine studierte, als müsse er jede Einzelheit auswendig lernen, unsere Gesichter gewissenhaft mit denen auf den Fotos verglich, obwohl er meine Schwester ja offensichtlich von früheren Besuchen kannte.
    »So macht er das jede Woche«, flüsterte Jo Lynn mir zu, während im Hintergrund ständig das klirrende Krachen von Türen zu hören war.

    »War nett, Sie wiederzusehen«, sagte Tom zu meiner Schwester und winkte uns weiter zu einem dritten abgesperrten Tor und einem Metalldetektor. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Kate.«
    Wir mußten unsere Schuhe, unsere Gürtel und unsere Sonnenbrillen ablegen, Schlüssel, Stifte und Kleingeld abgeben, und nachdem wir den Metalldetektor passiert hatten, begleitete uns ein Wärter durch ein weiteres klirrendes Tor und dann einen langen beigefarbenen Korridor mit glänzendem Linoleumbelag hinunter. »Die Häftlinge müssen den Boden jeden Tag bohnern«, erzählte mir Jo Lynn.
    Es folgte eine kurze Treppe, dann ein weiteres Tor, das von einem Posten in einer Glaszelle bewacht wurde, und plötzlich befanden wir uns im Herzen der Anstalt, einer Stelle, an der sich vier Korridore kreuzten und die allgemein »Grand Central« genannt wurde. Zu unserer Rechten befand sich ein Gitter vom Boden bis zur Decke, hinter dem die Zellentrakte waren.
    »Da drüben steht der elektrische Stuhl.« Jo Lynn wies durch das Gitter zu einer geschlossenen Tür am hintersten Ende des langen, breiten Korridors.
    Mehrere Häftlinge in blauen Arbeitshosen und blauen Hemden gingen auf ihrem Weg zur Arbeit in der Anstaltswäscherei an uns vorüber. »Wir gehen da entlang.« Jo Lynn zeigte es mir mit einer Handbewegung, und wir folgten einem Wärter in den Besucherraum, der am Hauptkorridor gelegen war.
    Küchengerüche zogen an meiner Nase vorbei.
    »In diesem Flügel sind auch die Küche und die Kantine«, erklärte Jo Lynn. »Der jetzige Besucherraum war früher die Kantine. Du wirst sehen, da sieht es aus wie in einer Schulkantine.«
    Sie hatte recht. Der Raum war groß und unansehnlich, dreißig oder vierzig Stahltische mit Stühlen standen darin. Das einzige, was ihn von einer Schulkantine unterschied, war die Tatsache, daß die Tische und Stühle am Boden festgeschraubt waren.
    »Siehst du den Wasserkühler da drüben?« Jo Lynn wies auf einen großen Wasserkühler aus Glas in einer Ecke des Raums.

    Ich nickte.
    »Behalt den mal im Auge«, riet sie mir.
    »Warum? Macht er Kunststücke?«
    »Warte, bis die Häftlinge reinkommen. Dann wirst du schon sehen.« Sie sah auf ihre Uhr und zeigte nach links. »Sie müssen sie jeden Moment reinbringen. Ich muß mal schnell auf die Toilette«, sagte sie abrupt, stellte die Kühltasche auf einen der Tische und lief davon.
    Ich sah mich um, tat so, als wollte ich mich ganz nebenbei mit meiner Umgebung vertraut machen, richtete jedoch meine Aufmerksamkeit

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