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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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ich mich fürchtete, diesem neuen Tag in die Augen zu schauen? Ich ging unter die Dusche und ließ mich von der wohltuenden Wärme des Wassers einhüllen.
    »Beeil dich«, drängte Jo Lynn etwas später, als ich den Reißverschluß meiner dunkelblauen Hose zuzog und eine orangefarbene Bluse aus meiner Reisetasche holte. »Das willst du anziehen?« fragte sie und lachte.
    »Ja, wieso, ist das nicht in Ordnung?«
    »Doch, doch, perfekt.« Sie lachte wieder und wartete mit Ungeduld, während ich die Bluse zuknöpfte und mir dann rasch mit der Bürste durch die Haare fuhr. Ich dachte daran, noch etwas Rouge aufzulegen und mir die Lippen nachzuziehen, ließ es dann aber sein. Jo Lynn hatte es eilig, und außerdem gab es niemanden,
den ich beeindrucken wollte. »Wir kaufen uns irgendwo unterwegs ein Muffin.« Sie nahm die Kühltasche mit den verschiedenen Käsesorten und den Geflügelsalatsandwiches – Colins Lieblingsessen -, die sie selbst gemacht hatte, und schob mich durch die Moteltür hinaus zum Wagen.
    Wahrscheinlich weil es dunkel gewesen war, war mir nicht aufgefallen, wie drastisch sich die Landschaft verändert hatte, nachdem wir vom Turnpike auf den Highway 301 gewechselt waren. Jetzt sah ich, daß hier, im Herzen des ländlichen Nordens von Florida, Gemüsegärtnereien und struppige Kiefern die Orangenhaine und majestätischen Palmen der Südostküste verdrängt hatten.
    »Ich wußte gar nicht, daß das hier eine so arme Gegend ist«, sagte ich vielleicht nicht ganz ehrlich.
    »Ja, erinnert ein bißchen an die abgelegenen ländlichen Gegenden von Georgia«, stimmte Jo Lynn zu, und ich fragte mich, wann sie zuletzt in den abgelegenen ländlichen Gegenden Georgias gewesen war.
    »Es ist wahnsinnig heiß«, stöhnte ich, während ich versuchte, einen Sender zu finden, der etwas anderes brachte als die neuesten landwirtschaftlichen Nachrichten. Die Luft im Wagen war drükkend und schwül. Hinter mir hörte ich plötzlich ein gewaltiges Donnern und fuhr herum. Ein riesiger Sattelschlepper war dicht an uns herangefahren und scherte jetzt aus, um uns zu überholen.
    Jo Lynn sah auf und winkte den Männern oben in der Fahrerkabine, die beide aus dem Fenster auf der rechten Seite hingen, um sich den Blick auf die nackten Beine meiner Schwester nicht entgehen zu lassen.
    »Die sollen ruhig auch mal was Schönes sehen«, bemerkte sie, als das Fahrzeug an uns vorbeizog.
    »Findest du das nicht ein bißchen riskant?« fragte ich, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
    Die Straße führte durch eine weite Ebene. Rechts und links weideten Kühe, manche standen, manche lagen im Gras.
    »Kann sein, daß es Regen gibt«, bemerkte Jo Lynn.

    Ich blickte durch die Windschutzscheibe zum wolkenlosen blauen Himmel hinauf.
    »Regen?«
    »Wenn alle Kühe stehen, heißt das, daß es sonnig wird. Wenn sie alle liegen, gibt’s Regen. Wenn ein paar stehen und ein paar liegen, dann ist das Wetter veränderlich.«
    »Hat dir das auch der Motelmanager erzählt?« fragte ich.
    »Nein«, antwortete sie. »Das hab ich von Daddy.«
    Ich bemühte mich, meine Überraschung über das plötzliche Auftauchen meines Stiefvaters in unserem Gespräch nicht zu zeigen.
    »Er ist manchmal mit mir aufs Land gefahren, und dann haben wir auch Kühe weiden sehen, genau wie hier, und er hat jedesmal gesagt, wenn die Kühe alle stünden, würde es schön werden, und wenn sie alle lägen, na ja, du weißt schon. Die Rinder hier gehören übrigens dem Gefängnis.«
    »Sind das dort Häftlinge?« fragte ich, erst jetzt auf die kleinen Gruppen von Männern aufmerksam werdend, die unter der Aufsicht uniformierter und mit Gewehren bewaffneter Männer an der Straße arbeiteten.
    »Wir sind hier nicht in Oz«, sagte Jo Lynn und lachte über mein Unbehagen.
    Dann erschien plötzlich das Gefängnis vor uns, nein, zwei Gefängnisse waren es, eines auf jeder Seite des Flusses namens New River, der die Landkreise Union und Bradford trennte. Das Union Correctional lag rechts, das Florida State links, jeweils erkennbar an den riesigen Schildern vor den doppelreihigen Maschendrahtzäunen, die mit Stacheldraht gekrönt waren.
    Jo Lynn fuhr den Wagen auf den ausgeschilderten Parkplatz, schaltete den Motor aus und ließ die Schlüssel in ihre Strohtasche fallen. »Wir sind angekommen«, verkündete sie feierlich und stieß ihre Tür auf.
    Ich folgte ihr zum Haupttor. Wir gingen schnell, um den lästigen Insektenschwärmen zu entkommen, und ohne einen Moment den Posten zu

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