Am Seidenen Faden
lächelte freundlich, den Blick zerstreut auf den Matisse-Druck gerichtet, der an der Wand gegenüber hing. »Glänzend.«
»Du hast doch schon mal eine Mammographie machen lassen, nicht?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Natürlich«, antwortete sie.
»Du mußt es der Röntgenassistentin sofort sagen, wenn sie dir weh tut.«
»Natürlich, Kind.«
»Aber normalerweise tut’s nicht weh.«
»Natürlich nicht.«
So verliefen dieser Tage alle Unterhaltungen mit meiner Mutter. Immerhin, es war mehr, als meine Schwester seit unserer Rückkehr aus Raiford mit mir gesprochen hatte. Ich hatte ihr erzählt, was sich abgespielt hatte, während sie in der Toilette gewesen war, hatte sorgsam jedes einzelne Wort wiederholt, das Colin Friendly gesagt hatte. Aber für sie war das nur ein Anlaß gewesen, ihn mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Ich hätte ihn provoziert, absichtlich mißverstanden, ihm das Wort im Mund umgedreht. Ich sagte, sie sei verrückt; sie sagte, ich sei eifersüchtig. Seitdem hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen.
Die Röntgenassistentin kam mit einem Hefter in der Hand ins Wartezimmer. Sie war groß und mager, mit langem, strähnigem rotem Haar, das mit einem Gummiband zusammengehalten war, und sie sah nicht älter aus als Sara. Mir wurde bewußt, daß ich sie zuvor kaum wahrgenommen hatte. Für mich war sie nicht mehr als ein Paar Hände, so wie ich für sie zweifellos nicht mehr war als ein Paar Brüste. Jeder nahm vom anderen nur das wahr, was er brauchte, nicht mehr und nicht weniger. So einfach ist es, dachte ich, den Teil vom Ganzen zu trennen.
»Mrs. Latimer?« Die junge Frau sah sich im Wartezimmer um,
das klein und fensterlos war, aber nicht ungemütlich. Meine Mutter antwortete nicht. Sie starrte träumerisch ins Leere.
»Mrs. Latimer« wiederholte die Röntgenassistentin.
»Mama!« Ich stieß sie an. »Sie hat dich aufgerufen.«
»Natürlich.« Meine Mutter stand hastig auf und rührte sich dann nicht von der Stelle.
»Bitte folgen Sie mir«, sagte die Röntgenassistentin zu ihr. Dann sah sie mich an. »Sie können sich jetzt wieder anziehen, Mrs. Sinclair.«
»Das Ergebnis ist negativ?« fragte ich hoffnungsvoll.
»Die Ärztin wird Ihnen die Ergebnisse mitteilen«, antwortete sie, wie ich erwartet hatte. »Aber die Aufnahmen sind in Ordnung. Ich muß sie nicht noch mal machen.«
Gott sei Dank, dachte ich, als meine Mutter der jungen Frau zur Tür folgte.
»Ich warte hier auf dich, Mama«, sagte ich.
»Natürlich, Kind«, antwortete sie.
Ich kleidete mich wieder an – weißer Baumwollpulli, graue Hose -, fuhr mir durchs Haar, zog meine Lippen nach, kehrte auf meinen Platz im Wartezimmer zurück und schloß die Augen. Sofort sah ich Colin Friendlys höhnisches Lächeln vor mir und machte die Augen wieder auf. Ich griff nach der neuesten Cosmopolitan -Ausgabe und konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit auf das derzeitige Cosmo-Girl. Sie stand lässig in einem königsblauen Negligé vor einem königsblauen Hintergrund; ihr Haar war lang und dunkel, ihre Augen waren braun und schwül, ihr Ausschnitt war tief, der Busen üppig.
Mir fiel ein, wie ich Sara, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war, einmal im Badezimmer überrascht hatte, wo sie vor dem Spiegel gestanden und ihre nackte Brust gemustert hatte. »Wenn ich groß bin«, hatte sie ernsthaft gefragt, »krieg ich dann einen großen Busen oder so einen schönen kleinen wie du?«
Ich sagte, sie würde wahrscheinlich einen kleinen bekommen. Es war nicht das letzte Mal, daß ich meine älteste Tochter falsch eingeschätzt habe.
Als meine Mutter wieder ins Wartezimmer kam, ging sie sofort daran, sich des blauen Kittels zu entledigen. Die Frauen im Raum waren peinlich berührt. Sie sahen weg, taten so, als müßten sie husten, beugten die Köpfe über ihre Lektüre.
»Warte, Mama«, rief ich und lief zu ihr. Ich zog ihr den Kittel wieder über die Schultern. »Hat die Röntgenassistentin dir nicht gesagt, du sollst mit dem Anziehen warten, bis sie weiß, ob die Aufnahmen in Ordnung sind?«
Meine Mutter lächelte. »Doch, ja, ich glaube schon.«
»Na also. Dann setzen wir uns jetzt noch ein paar Minuten.« Ich führte sie zu der Reihe blaugepolsterter Stühle. »Wie war’s denn?«
»Besonders gefallen hat’s mir nicht«, sagte sie, und ich lachte.
»Hat es weh getan?«
»Besonders gefallen hat’s mir nicht«, wiederholte sie, und ich lachte wieder, weil sie es zu erwarten
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