Am Seidenen Faden
das sagen alle.«
»Ich hoffe, Sie schmoren in der Hölle.«
Er lächelte. »Heißt das, daß Sie nicht zur Hochzeit kommen?«
Ich weiß nicht mehr, was ich darauf sagte, ob ich überhaupt etwas sagte. Ich wollte nur zuschlagen, dieses höhnische Grinsen von seinem Gesicht wischen, ihn bis zur Leblosigkeit prügeln. Statt dessen floh ich, so wehrlos wie seine Opfer, und rannte weinend zum Parkplatz hinaus. Insektenschwärme überfielen mich, Möwen kreischten über mir, es begann leicht zu regnen. Als Jo Lynn kurz nach drei endlich kam, war ich klatschnaß, meine
orangefarbene Bluse klebte wie Frischhaltefolie an meinem Körper, das Haar hing mir in Strähnen vom Kopf, wie Seetang.
»Die Kühe hatten recht«, sagte meine Schwester, als sie die Wagentür aufsperrte.
Auf der langen Fahrt nach Hause sprach keine von uns ein weiteres Wort.
22
Vier Tage später stand ich am Ufer des Osborne-Sees und beobachtete, wie die Polizei von kleinen, flachen Booten aus das Wasser absuchte. Ein Tauchterteam, mit Atemgeräten ausgerüstet, befand sich bereits seit Stunden im Wasser.
»Was suchen die denn?« fragte eine Frau und stellte sich neben mich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Amy Lokash war seit fast einem Jahr verschwunden. Was hoffte die Polizei zu finden, wenn ihre Leiche tatsächlich in diesem See versenkt worden war?
Wenn Colin Friendly sie nicht beschwert oder einbetoniert hatte, wäre sie ein paar Tage später, nachdem er sie ins Wasser geworfen hatte, an die Oberfläche getrieben. Aber es war keine Leiche gefunden worden, wie man mir bei der Polizei sogleich versicherte, als ich von meinem Gespräch mit dem Serienmörder berichtet hatte.
»Er hält Sie zum Narren«, hatte ein Polizeibeamter zu mir gesagt. Dennoch erklärten sie sich bereit, den See abzusuchen.
Im allgemeinen werden Zuschauer bei einem solchen Unternehmen nicht zugelassen, aber der John Prince Park ist sehr weitläufig und von vielen Stellen aus leicht zugänglich. Es ist unmöglich, das ganze Areal abzusperren. Im übrigen wäre es auch gar nicht nötig gewesen. Es war an einem Mittwoch mitten im Februar. Es waren nur wenige Menschen im Park: eine junge Mutter,
die auf einer Schaukel in der Nähe ihr kleines Kind hin- und herschwang und für nichts sonst Augen hatte; zwei Männer, die Arm in Arm spazierengingen und das Weite suchten, sobald die Polizei erschien; ein Penner mit einer Flasche, der schon viel zu betrunken war, um sich darum zu kümmern, ob er gesehen wurde; ein paar Jogger, die kurz anhielten, um sich zu erkundigen, was los sei, und dann weiterliefen.
Ich hätte nicht sagen können, warum ich hergekommen war. Vielleicht hoffte ich, es würde sich irgendein konkretes Beweisstück finden, das ich meiner Schwester unter die Nase halten konnte, ehe es zu spät war. Vielleicht erhoffte ich endgültige Gewißheit für Donna Lokash. Oder vielleicht wollte ich auch nur eine Weile meinen Alltag verdrängen, der heute von mir verlangte, meine Mutter abzuholen, um mit ihr in die Röntgenpraxis zu fahren, wo wir zur Mammographie angemeldet waren.
Als es Mittag wurde, waren alle Taucher mit verneinendem Kopfschütteln in die Boote zurückgekehrt, und es war klar, daß die Polizei ihre Suche beenden würde, nachdem nichts weiter als ein alter Autoreifen und mehrere einzelne Schuhe gefunden worden waren. Colin Friendly hatte Amy Lokash vielleicht getötet, aber er hatte ihre Leiche nicht in den Osborne-See geworfen. Der Polizeibeamte hatte recht gehabt – er hatte mich zum Narren gehalten.
Eine Stunde später stand ich mit nacktem Oberkörper in einem klinisch kühlen Raum und sah zu, wie die Röntgenassistentin routiniert und gleichgültig erst meine rechte Brust, dann meine linke zwischen zwei kalte Platten schob und plattdrückte. Gleich kommt das Vögelchen, dachte ich, während ich dem Summen des großen Röntgenapparats lauschte.
»Okay, wir sind fertig«, sagte die junge Frau und gab meine Brust wieder frei. »Nehmen Sie einen Moment im Wartezimmer Platz. Bitte ziehen Sie sich erst wieder an, wenn ich Ihnen Bescheid gesagt habe, daß die Aufnahmen in Ordnung sind.«
Ich schob meine Arme in die Ärmel des blauen Kittels, der mir um die Taille hing, und ging durch den Korridor ins Wartezimmer,
wo zusammen mit vier anderen Frauen in blauen Kitteln meine Mutter saß.
»Wie fühlst du dich, Mama?« Ich setzte mich auf den Stuhl neben sie, lehnte den Kopf an die kühle blaue Wand und atmete tief.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher