Am Seidenen Faden
»Du kannst bestimmt eine Tasse gebrauchen.«
Sie hatte recht. Ich ging in die Küche und tat brav, was sie verlangt hatte.
»Es ist unglaublich, was sich in manchen von diesen Seifenopern abspielt«, bemerkte Jo Lynn ohne eine Spur von Ironie. Sie wies mit dem Kopf zu unserer Mutter. »Also, wie lautet die Prognose?«
»Bis jetzt haben die Ärzte nichts Organisches gefunden«, antwortete ich, zu müde, um etwas anderes zu tun, als diesen Besuch über mich ergehen zu lassen. »Woher wußtest du überhaupt, daß sie hier ist?«
»Ich hab versucht, sie anzurufen, und hörte, daß der Anschluß nicht mehr besteht. Daraufhin hab ich bei Mrs. Winchell nachgefragt.«
»Woher das plötzliche Interesse an Mutter?«
»Darf ich nicht interessiert sein?«
Ich zuckte die Achseln und sah schweigend zu, wie der Kaffee langsam in die Glaskanne tropfte.
»Na, willst du mich nicht fragen, wie’s hinter dem Wasserkühler war?« erkundigte sich Jo Lynn ungeduldig.
»Nein.«
»Ach, tu doch nicht so. Du platzt doch vor Neugier.«
»Nein, du platzt vor Mitteilungsbedürfnis. Das ist ein Unterschied.«
»Es war der reine Wahnsinn«, sagte sie. »Na ja, nicht im technischen Sinn. Ich meine, es war ziemlich eng da hinten, und wir mußten uns beeilen, aber das hat’s irgendwie um so aufregender gemacht. Unter normalen Umständen ist Colin ein toller Liebhaber, das hat man sofort gemerkt.«
Warum brauchte der Kaffee so lang, um durchzulaufen? Ich fixierte die Maschine, als könnte ich dadurch den Vorgang beschleunigen.
»Meinst du nicht, wir sollten Mutter wecken?« fragte Jo Lynn.
»Wozu?«
»Ich möchte mit ihr reden.«
»Wozu?«
»Brauch ich deine Genehmigung, um mit meiner Mutter zu reden?«
»Nein, natürlich nicht. Aber alles, was man zu ihr sagt, geht zum einen Ohr hinein und durch das andere sofort wieder hinaus.«
»Vielleicht«, meinte Jo Lynn.
»Nicht vielleicht. Es ist so. Ich bin schließlich die ganze Zeit mit ihr zusammen. Ich bin diejenige, die mit ihr spricht.«
»Vielleicht hast du nichts Interessantes zu sagen.«
Ich schüttelte seufzend den Kopf. Sie hatte wahrscheinlich recht. »Darf ich fragen, worüber du mit ihr sprechen willst?«
Jo Lynn spitzte die Lippen und schien über das Für und Wider einer offenen Antwort nachzudenken. »Na ja, ich kann’s dir ja sagen, da es ursprünglich sowieso deine Idee war.«
»Meine Idee?«
»Das mit dem Jurastudium.«
»Was?«
»Ich hab darüber nachgedacht. Vielleicht ist der Gedanke gar nicht so blöd.«
»Es ist dir ernst?«
»Oh. Gelegentlich höre ich sogar auf das, was du sagst«, erwiderte sie. »Falls du es nicht wissen solltest.«
»Und du willst anfangen Jura zu studieren?« sagte ich verdattert. Dieses Gespräch konnte noch nicht Wirklichkeit sein. Bestimmt lag ich in meinem Bett, die Decke hochgezogen, während meine Innereien wütend gegen die überraschende Beschneidung inneren Wildwuchses protestierten. Am Samstag hatte meine Schwester einen Serienmörder geehelicht; heute wollte sie ein Jurastudium beginnen. Phantasien waren Halluzinationen gewichen. Ich war so verrückt wie der Rest meiner Familie.
»Ich glaube, daß du recht hast«, sagte Jo Lynn gerade. »Es ist für mich der einzige Weg, Colin wirklich zu helfen und ihn aus dieser gräßlichen Anstalt herauszuholen.«
»Das wird nicht leicht werden«, warnte ich.
»Das ist mir klar. Erst muß ich mal das Studium erfolgreich abschließen.«
»Erst mußt du sehen, ob du überhaupt genommen wirst.«
»Das weiß ich«, versetzte sie ungeduldig. »Aber ich bin fest entschlossen, und du kennst mich ja, wenn ich was wirklich will, dann krieg ich’s auch.«
»Das heißt mindestens fünf Jahre Studium.«
»Hab ich denn was Besseres zu tun?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Hast du ein Problem damit?« fragte sie. » Du hast es doch vorgeschlagen. Du hast so getan, als wäre es eine super Idee.«
»Es ist auch eine super Idee.«
»Ich hab gedacht, du würdest dich freuen.«
»Das tu ich ja auch. Es ist nur …«
»Du hast immer noch eine Wut auf mich wegen Sara.«
»Du läßt einem gar keine Zeit, zu Atem zu kommen.«
»Das ist Teil meines Charmes.« Jo Lynn richtete ihren Blick auf unsere Mutter. »Meinst du, sie rückt die Kohle raus?«
Ich griff in den Schrank, nahm zwei Becher und füllte sie mit dem frisch gebrauten Kaffee. »Die Kohle wofür?«
»Na, für die Studiengebühren und so.«
Ich reichte Jo Lynn einen Becher und trank vorsichtig einen ersten
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