Am Seidenen Faden
ließ mich nicht provozieren, zeigte mich eisern beherrscht. Jedesmal, wenn Sara versuchte,
mich zu ködern oder in einen Streit zu verwickeln, trat ich einfach zurück. Ich erklärte ruhig, wir wüßten doch beide, wo sie wirklich gewesen war, und hielt ihr die Folgen ihrer Lügen vor Augen. Und am Ende sah Sara ein, daß sie falsch gehandelt hatte, und übernahm die Verantwortung für ihr Handeln. Wir beendeten die Auseinandersetzung mit einer tränenreichen Umarmung.
Na, ist das nicht eine hübsche Phantasie?
Um drei Uhr läutete es an der Tür. Ich quälte mich aus dem Bett und ging hinaus. Ich dachte, es wäre Larry, obwohl es mich wunderte, daß er seinen Schlüssel nicht mithatte. Aber es war nicht Larry. Es war Jo Lynn. Bitte, laß das auch nur einen Traum sein, flehte ich, während ich ihren konservativen dunkelblauen Hosenanzug und das zurückgebundene Haar registrierte.
»Ich bin inkognito«, erklärte sie, meinen Blick bemerkend. »Die Reporter machen mich wahnsinnig.«
»Na so was«, sagte ich und wünschte sogleich, ich hätte es nicht getan. Ich hatte meiner Schwester nichts zu sagen. Was wollte sie hier?
»Du siehst schlecht aus«, stellte sie fest und trat ein, ehe ich sie daran hindern konnte. »Bist du krank?«
»Ich hatte heute morgen eine kleine unerwartete Operation«, antwortete ich. Was zum Teufel war los mit mir? Konnte ich denn nie den Mund halten?
»Eine Operation? Was denn für eine?«
»Nur was Kleines.«
»Igitt«, sagte sie, an Einzelheiten nicht interessiert.
»Was willst du hier, Jo Lynn?«
»Oh, oh, du bist sauer. Ich hör’s an deiner Stimme.«
»Wie scharfsichtig von dir.«
»Wie sarkastisch von dir. Komm schon, Kate. Du kannst doch nicht überrascht sein. Ich hab dir seit Monaten von meinen Heiratsplänen erzählt.«
»Wie konntest du nur?« fragte ich vorwurfsvoll.
»Ich liebe Colin. Ich bin überzeugt, daß er unschuldig ist.«
»Ich rede nicht von deinem unmöglichen Ehemann«, schrie ich sie an. »Ich spreche von meiner Tochter.«
Schweigen. »Colin ist nicht unmöglich«, sagte Jo Lynn dann.
Ich stöhnte nur.
»Wie findest du meinen neuen Namen? Jo Lynn Friendly. Klingt doch gut, nicht?«
Ich sagte nichts.
»Ach – redest du nicht mehr mit mir?«
»Die Lust dazu ist mir vergangen.«
»Mensch, sei doch nicht so verbissen, Kate. Ich hab eine Trauzeugin gebraucht. Du hast abgelehnt, also hab ich Sara gefragt, und sie war so nett, ja zu sagen. Es war doch ein erfreulicher Anlaß. Eine Hochzeit!«
»Eine Hochzeit hinter Gittern.«
»Sei nicht so melodramatisch.«
»Du hast dich einfach über meine Wünsche hinweggesetzt.«
»Nun mach nicht gleich aus einer Mücke einen Elefanten.«
Ich holte tief Atem. Das letzte, was ich jetzt brauchte, war ein Streit mit meiner Schwester. »Was willst du hier, Jo Lynn?« fragte ich wieder.
»Ich suche Mutter.«
Ich sah ins Wohnzimmer hinüber. Unsere Mutter saß noch genauso da, wie ich sie vor ein paar Stunden hingesetzt hatte. Sie hatte sich nicht gerührt, nicht einmal beim Klang von Jo Lynns Stimme. »Mama?« rief ich und ging rasch auf sie zu.
Auf dem Bildschirm stritten sich gerade zwei unglaublich gutaussehende junge Leute über die bevorstehende Wiederheirat ihres Vaters. Unsere Mutter schien die Vorgänge aufmerksam zu verfolgen. Die Hände im Schoß gefaltet, die Füße fest auf dem Boden, saß sie ganz still da. Ihre Augen waren offen. Ein kleiner Speichelfaden zog sich zu ihrem Kinn hinunter.
»Ist sie tot?« fragte Jo Lynn von hinten, als ich mich zu unserer Mutter hinunterbeugte.
»Mama?« sagte ich und berührte vorsichtig ihre Schulter.
Ihre Augen zwinkerten kurz, dann fielen sie zu. Ich atmete erleichtert
auf. Behutsam wischte ich ihr den Speichel vom Kinn, dann trat ich zurück und stieß gegen Jo Lynn. Hastig wich ich seitlich aus. »Sie schläft.«
»Sie schläft mit offenen Augen?«
»Sie dämmert wahrscheinlich.«
»Gruslig.«
Ich griff nach der Fernbedienung, um den Fernsehapparat auszuschalten.
»Nicht!« quietschte Jo Lynn. »Das sind Reese und Antonia. Ihr Vater will seine zweite Frau wieder heiraten, die sie immer gehaßt haben, weil sie früher mal Stripperin war und sie umbringen wollte. Sie hat ihnen das Haus angezündet. Aber jetzt ist sie okay. Sie hat noch mal studiert und ist Psychiaterin geworden. Hast du Kaffee?«
Ich schaltete den Fernseher aus. »Nein.«
»Dann mach welchen.« Jo Lynn machte es sich in einem der Korbstühle in der Frühstücksnische gemütlich.
Weitere Kostenlose Bücher