Am Seidenen Faden
steht schon auf dem Tisch.‹
›Es ist kalt.‹
›Ich wärme es auf.‹
›Du weißt, ich hasse aufgewärmtes Essen. Ich schufte doch nicht den ganzen Tag und zahle einen Haufen Geld für Fleisch, damit ich es dann aufgewärmt vorgesetzt kriege.‹
›Bitte reg dich nicht auf. Ich mach was anderes.‹
›Glaubst du, ich hab Lust, den ganzen Abend zu warten, bis du was anderes gemacht hast?‹
›Es dauert nicht lang.‹
›Du glaubst wohl, ich verdiene keine anständige Mahlzeit, wenn ich nach Hause komme?‹
›Aber nein, natürlich nicht. Ich versuche doch immer, es schön für dich zu machen.‹
›Warum ist es dann nicht schön?‹
›Na ja, du bist doch erst so spät gekommen …«
›Willst du jetzt vielleicht mir die Schuld geben?‹
›Nein, nein. So was kommt vor. Das versteh ich doch.‹
›Du verstehst einen Scheiß.‹
›Es tut mir leid, Mike. Es war nicht meine Absicht …‹
›Dir tut immer alles leid. Es ist nie deine Absicht. Du denkst einfach nicht, das ist dein Problem. Warum bist du nur so?‹
›Bitte, Mike, beruhige dich. Du machst den Kindern angst.«
›Zum Teufel mit den Kindern.‹
›Bitte, fang jetzt nicht an zu fluchen, Mike.‹
›Willst du mir den Mund verbieten? Ach ja, richtig, dein erster Mann, dieser beschissene Heilige, hat nie geflucht. Und was willst du tun? Mir den Mund mit Seife auswaschen? Hä?‹
›Bitte, Mike!‹
›Hey, das ist eine prima Idee. Genau das werd ich mit dir tun. Ich werd dir den Mund mit Seife auswaschen. Dann überlegst
du’s dir beim nächsten Mal vielleicht zweimal, eh du deinem Mann frech kommst.‹
›Nein, bitte nicht!‹
›Was ist los? Schmeckt’s dir nicht? Ich wette, es schmeckt besser als das Scheißzeug, das du mir heute abend hinstellen wolltest, du blöde Kröte.‹
Ich schloß die Augen. Ich wollte die Blutergüsse, die meine Mutter am nächsten Morgen rund um den Mund gehabt hatte, nicht sehen und auch nicht die roten Male an ihrem Hals und ihren Armen, den rot entzündeten Kratzer an ihrem Kinn.
›Was hast du mit meiner Mutter gemacht?‹ fragte ich einmal bei so einem Anlaß.
›Pscht, Kate‹, warnte meine Mutter. ›Es ist nichts.‹
›Wovon redest du? Ich hab deine Mutter nie angerührt. Was für Lügen hast du dem Mädchen erzählt, Helen?‹
›Ich hab ihr gar nichts erzählt. Es ist okay, Kate. Ich bin auf dem Teppich ausgerutscht. Ich bin gegen die Tür gefallen.‹
›Trampel‹, sagte mein Stiefvater.
›Sie ist kein Trampel‹, rief ich. ›Du bist der Trampel.‹
Selbst jetzt noch kann ich den harten Schlag auf meinem Hinterkopf spüren. Ich werde das niemals tun, gelobte ich mir in diesem Moment. Ich werde meine Kinder niemals schlagen.
»Ich bin nicht besser als er«, sagte ich zu Larry.
»Hör doch auf, dich deswegen fertigzumachen«, sagte er.
»Ich bin Therapeutin, Herrgott noch mal!«
»Ja, du bist Therapeutin«, wiederholte er. »Und keine Heilige. Ist denn je etwas Ähnliches vorgekommen? Nein. Es ist ein einziges Mal passiert. Sie hat dich provoziert, und du hast die Beherrschung verloren.«
›Er ist nicht immer so‹, konnte ich meine Mutter unter Tränen beteuern hören. ›Oft ist er lieb und aufmerksam und lustig. So was passiert nur manchmal, wenn er unter großem Streß steht. Oder wenn ich ihn provoziere und er einfach die Beherrschung verliert.‹
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte ich zu Larry, wie ich zu ihr gesagt hatte.
War Gewalt übertragbar? Wurde sie von einer Generation an die nächste weitergegeben wie eine Erbkrankheit? Gab es kein Entkommen?
Ich sagte für die nächsten beiden Tage alle Termine ab und blieb die meiste Zeit im Bett. Sara tat, als existierte ich nicht. Sie ging zur Schule, kam nach Hause, blieb bis zum Abendessen im Arbeitszimmer, aß schweigend und ging nach dem Abendessen wieder ins Arbeitszimmer. Ich war die Unsichtbare, eine Rolle, die mir nicht ganz fremd war, nur war es diesmal etwas anders, da mir die Unsichtbarkeit absichtlich übergestülpt wurde.
»Kann ich mit dir reden?« fragte ich ein paar Tage später abends an der Tür zum Arbeitszimmer.
»Nein«, antwortete Sara. Sie schlug ein Buch auf und tat, als läse sie.
»Ich finde es wichtig, daß wir über das sprechen, was passiert ist.«
»Du hast mich geschlagen, das ist passiert.«
»Ich habe dich nicht geschlagen«, begann ich und brach ab. »Es tut mir so leid.«
»Ich will nicht drüber reden.«
»Laß sie«, sagte Larry, der hinter mich getreten war, leise und
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