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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Du warst sein Liebling. Er hat dich nie angerührt.« Kaum waren die Worte über meine Lippen, da wußte ich schon, daß sie nicht stimmten. »O nein«, sagte ich. »Bitte nein!«
    »Willkommen im wirklichen Leben, Frau Therapeutin«, sagte meine Schwester.
    »Ich habe nichts getan«, sagte unsere Mutter und stand langsam auf.
    »Ganz recht, Mama. Du hast nichts getan.« Jo Lynn starrte auf das hintere Fenster, als wäre die Vergangenheit auf das Glas projiziert, wie ein Film auf eine Leinwand. »Du hast nichts getan, wenn er abends in mein Zimmer gekommen ist, um mir einen ›Gute-Nacht-Kuß‹ zu geben; wenn er nachts aus deinem Bett gestiegen und zu mir ins Bett gekommen ist; wenn er sonntags mit mir rausgefahren ist. ›Siehst du die Kühe da drüben?‹ hat er immer gesagt, wenn er mir die Hand zwischen die Beine geschoben hat. ›Wenn alle Kühe stehen, heißt das, daß es sonnig wird, und wenn alle Kühe liegen, dann gibt es Regen.‹«
    »O Gott«, flüsterte ich schwach. Ich fühlte mich wie innerlich ausgehöhlt. »Ich hatte keine Ahnung.«
    »Nein, aber sie !« Jo Lynn sah meine Mutter an, deren Blick auf das hintere Fenster gerichtet war, als sähe sie sich denselben alten Film an wie meine Schwester. »Und sie hat nichts getan.«
    »Ich hab’s nicht gewußt«, flüsterte unsere Mutter. »Ich hab’s nicht gewußt.«
    »Erzähl mir nicht, daß du nichts gewußt hast«, schrie meine Schwester. »Du hast es genau gewußt. Du hast nur so getan, als wüßtest du es nicht. Was hast du dir dabei gedacht? Hast du geglaubt, wenn du es ignorierst, dann geht’s von selber vorbei? Ja, hast du das geglaubt?«
    »Ich habe es nicht gewußt.«
    »Wie konntest du das dulden? Wie konntest du zulassen, daß er mir diese furchtbaren Dinge antat. Du bist meine Mutter. Du hättest dich um mich kümmern müssen. Du hättest mich beschützen müssen.«

    »Er war immer so lieb zu dir«, sagte unsere Mutter weinend. »So zärtlich.«
    »O ja, so zärtlich!«
    »Ich war neidisch. Ich hab oft gedacht, wenn er zu mir auch so lieb wäre, so sanft.«
    »Du hast es gewußt«, beharrte Jo Lynn. »Versuch bloß nicht, mir weiszumachen, du hättest es nicht gewußt.«
    »Erst als du dreizehn warst, ist mir der Verdacht gekommen, daß da was sein könnte.«
    »Und was hat dich zum ersten Mal auf die Idee gebracht, Mama? Meine ständigen Alpträume, meine schlechten Noten, das Blut auf meinem Bettlaken?«
    Einen Moment war Totenstille. Sara nahm Michelle in den Arm und zog sie an sich.
    »Es war der Blick, mit dem er dich angesehen hat«, sagte unsere Mutter schließlich. »Du hast dich gebückt, weil du was aufheben wolltest. Ich hab den Blick in seinen Augen gesehen und mit einem Schlag alles gewußt. Am nächsten Tag hab ich ihn verlassen.«
    »Da war es zu spät.« Jo Lynn wischte sich die Nase mit dem Handrücken. »Es war zu spät.«
    Unsere Mutter sank auf ihrem Stuhl zusammen und nahm den Kopf in die Hände.
    »Aber du hast ihn doch besucht«, erinnerte ich meine Schwester. »Als er krank wurde, hast du ihn im Krankenhaus besucht. Du hast geweint, als er gestorben ist.«
    »Er war mein Vater«, sagte Jo Lynn.
    Und dann sagte keine mehr ein Wort.

29
    In dieser Nacht träumte ich, ich liefe über eine große weite Wiese. Der Himmel war dunkel, Regen drohte, das Gras war dürr und gelb. In der Ferne sang Jo Lynn: »Du kannst mich nicht fangen.« Ich rannte der Stimme entgegen und stolperte über eine große schwarz-weiße Kuh, die auf der Erde lag. Als ich mich aufrappelte, sah ich Sara auf dem Rücken einer anderen Kuh sitzen. Sie weinte. Ich wollte zu ihr laufen, aber da versperrten mir plötzlich zwei Reihen dicken Stacheldrahts den Weg zu ihr.
    Colin Friendly stand mit einem langen Gewehr in den Händen, das auf den Kopf meiner Tochter gerichtet war, auf einem hohen Turm. »Keine Sorge«, sagte er zu mir. »Ich kümmere mich um sie.«
    »Alle Kühe liegen«, sagte jemand hinter mir.
    Ich fuhr herum. Mein Stiefvater stand dort, an den Stamm eines mächtigen Banyanbaums gelehnt. In einer Hand hielt er eine Bierflasche, mit der anderen hielt er Michelle.
    »Das heißt, daß es Regen gibt«, sagte Michelle, als die Hand meines Stiefvaters, die auf ihrer Brust lag, fester zupackte.
    Ich fuhr in meinem Bett in die Höhe. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich war schweißgebadet. Im nächsten Moment lag ich auf den Knien vor der Toilette im Badezimmer und übergab mich. »Du dreckiges Schwein«, flüsterte ich wütend. »Du gemeines,

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