Am Seidenen Faden
dreckiges Schwein.«
Wieso hatte ich nichts gemerkt? Wieso hatte ich nichts geahnt? Seit Jahren hatte meine Schwester immer wieder Andeutungen gemacht. Die Einzelteile waren alle vorhanden. Ich hätte sie nur sammeln und zu einem zusammenhängenden Ganzen anordnen müssen. War ich blind gewesen oder nur dumm? Und wie war das mit meiner Mutter? Hatte sie es die ganze Zeit gewußt, wie Jo Lynn ihr vorgeworfen hatte, oder war sie gegangen, sobald sie einen Verdacht hatte? Spielte das heute noch eine Rolle? Der Schaden war angerichtet.
Ich dachte daran, Larry anzurufen, entschied mich dann dagegen. Es war fast zwei Uhr morgens. Ich würde das ganze Haus wecken, seine Mutter zu Tode erschrecken. Und wozu? Damit ich ihm diese letzten Neuigkeiten über meine immer irrer werdende Familie mitteilen konnte?
Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, ehe alle sich beruhigt hatten, nachdem Jo Lynn weinend aus dem Haus gestürzt war, so unsicher auf den Beinen, daß sie jeden Moment zu fallen drohte. »Bitte, bleib«, bat ich, neben ihrem Wagen stehend. »Du kannst in meinem Bett schlafen. Bitte, Jo Lynn, du solltest jetzt nicht Auto fahren. Es ist besser, wenn du jetzt nicht allein bist.«
Statt einer Antwort verriegelte sie die Wagentüren und raste im Rückwärtsgang hinaus auf die dunkle Straße, wo sie beinahe mein geparktes Auto gerammt hätte. Zehn Minuten später versuchte ich sie anzurufen, aber nur der Anrufbeantworter meldete sich. »Hallo, hier spricht Jo Lynn«, gurrte ihre Stimme. »Schütten Sie mir ruhig Ihr Herz aus.«
»Ich liebe dich«, sagte ich. »Bitte ruf mich an, sobald du zu Hause bist.«
Zehn Minuten später rief ich noch einmal an und hinterließ eine zweite Nachricht. Danach versuchte ich es alle zehn Minuten. Erst nach Mitternacht gab ich auf. Es war offensichtlich, daß sie nicht mit mir sprechen wollte. Was gab es auch noch zu sagen?
»Glaubst du, sie kommt zurecht?« fragte Michelle.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
»Glaubst du, Großmama hat’s gewußt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Warum hat Jo Lynn zu keinem Menschen je was gesagt?«
»Ich weiß es nicht.«
Wußte ich überhaupt irgend etwas?
»Warum hast du ihr nicht einfach das Geld gegeben?« fragte Sara. »Du hast es doch.«
»Darum geht es nicht«, entgegnete ich.
»Doch. Sie hat dich um Hilfe gebeten, und du hast sie ihr verweigert.«
»Ich habe versucht, ihr zu helfen.«
»Ja, eine schöne Therapeutin bist du.«
Ich widersprach nicht. Sie hatte ja recht.
Irgendwie schaffte ich es, meine Mutter in Saras Zimmer zu bugsieren, sie auszuziehen und ins Bett zu bringen. Ich neigte mich über sie und küßte ihre weiche, tränennasse Wange. »Alles in Ordnung, Mama?« fragte ich, aber sie antwortete nicht. Sie lag nur still da, mit offenen Augen, und die Tränen flossen weiter. Als ich eine halbe Stunde später nach ihr sah, hatte sie sich nicht gerührt.
Am nächsten Morgen fuhr ich zu Jo Lynns Wohnung.
»Können Sie mir die Wohnung aufmachen?« fragte ich den Hausmeister, einen großen Mann mit einem langen, kantigen Gesicht und dunklen, tiefliegenden Augen. »Sie war gestern Abend sehr aufgebracht. Ich möchte mich nur vergewissern, daß es ihr gutgeht.«
»Woher soll ich wissen, daß Sie wirklich ihre Schwester sind?« fragte er mit skeptischem Blick.
»Wer sollte ich sonst sein?«
»Eine Reporterin«, antwortete er. »Ihr Journalisten wimmelt hier doch seit der Hochzeit rum wie die Ameisen.«
»Ich bin nicht von der Presse.«
»Sie sehen ihr nicht ähnlich.«
»Hören Sie, ich hab Angst, daß sie sich vielleicht was angetan hat.« Ich brach ab, zu müde, um weiterzustreiten. Ich drehte mich um und wollte gehen.
»Warten Sie«, rief er mir nach. »Ich denke, ich kann Sie reinlassen.«
»Was hat Sie umgestimmt?« fragte ich, als er die Tür zur Wohnung meiner Schwester im ersten Stock aufsperrte.
»Wenn Sie von der Presse gewesen wären«, sagte er und trat zur Seite, um mich in die Wohnung zu lassen, »hätten Sie niemals so leicht aufgegeben.«
»Jo Lynn«, rief ich an der Tür und wartete ängstlich. »Jo Lynn, bist du da?« Ich setzte widerwillig einen Fuß vor den anderen,
wagte kaum, mich umzuschauen vor Angst, ich könnte etwas entdecken, worauf ich nicht gefaßt war. »Jo Lynn«, rief ich wieder, während ich mit dem Hausmeister auf den Fersen weiter in die Wohnung hineinging.
Die Wohnung war, typisch Jo Lynn, sowohl ordentlich als auch chaotisch. Chaos mit Methode, dachte ich, während mein Blick
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