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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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über den abgetretenen blaugrünen Spannteppich flog, über das Sofa und den Sessel mit dem verblichenen geblümten Bezug, den Couchtisch, dessen Glasplatte unter Stapeln von Zeitungen verborgen war. Auch auf der schwarzen Resopalplatte der Frühstücksbar lagen Zeitungen herum. Über einem Barhocker hing ein schmutziger weißer Pulli, auf dem Boden lag ein Paar kirschroter Sandalen, einer davon mit gerissenem Riemchen.
    »Scheint nicht hier zu sein.« Der Hausmeister spähte mir über die Schulter, als ich einen Blick in die Küche warf. Auch hier Zeitungen auf dem Tisch, eine große Schere daneben, ein aufgeschlagenes Album, ein leerer Leimtopf. Ich sah mir das Album mit den Zeitungsausschnitten an. Colin Friendly starrte mir entgegen, und ich wandte mich schnell ab. Mein Blick fiel auf eine Reihe alter Müslikartons, die auf der Arbeitsplatte standen. Das Bild eines kleinen Mädchens, das durch Zahnlücken lächelte, stand an einen der Kartons gelehnt. »Verschwunden« hieß es über dem lächelnden Gesicht. Ich rannte weinend aus der Küche.
    »Ist Ihnen nicht gut?« fragte der Hausmeister.
    Ich schüttelte den Kopf. Bilder Jo Lynns stürmten auf mich ein, eine Folge grausiger Fotografien aus dem Leichenhaus. Jo Lynn mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne; Jo Lynn, die stranguliert an der Duschkabine hing; Jo Lynn aschfahl, mit offenem Mund und adrett gefalteten Händen auf ihrem Bett, gestorben an einer Überdosis Schlaftabletten.
    »Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte ich den Hausmeister. »Würden Sie für mich in den anderen Zimmern nachsehen?«
    Er zögerte, schwankte, ging schließlich.
    »Sie sollten besser mal hier rein schauen«, rief er Sekunden später.

    Meine Knie zitterten so heftig, daß ich meinte, ich würde stürzen. »O Gott«, sagte ich und hielt mich an der Bar fest. »Ist sie …?«
    »Sie ist nicht hier«, antwortete der Hausmeister. »Sie hat gar nicht hier geschlafen, so wie’s ausschaut.«
    Ich lachte erleichtert auf, aber aus dem Lachen wurde schnell ein Schluchzen, das mir in der Kehle steckenblieb und erstarb, als ich an die Tür zum Schlafzimmer meiner Schwester trat. Das breite französische Bett war ordentlich gemacht und hatte einen blau-weiß karierten Überwurf, der in ein Kinderzimmer gepaßt hätte. Ein aprikosenfarbener Teddybär saß auf dem blauweiß karierten Rüschenkissen am Kopfende.
    »Schaut aus wie das Zimmer meiner kleinen Tochter«, bemerkte der Hausmeister, meine eigenen Gedanken aussprechend. Der Spiegel über der Frisierkommode war rundherum mit Fotos von Colin Friendly bepflastert. Ganz gleich, wohin ich sah, er war da. Und lachte mich aus.
    »Ihre Kleider sind weg«, sagte der Hausmeister.
    »Was?«
    Er wies zum Schrank. »Hat sie vielleicht gesagt, daß sie verreisen will?«
    Ich schüttelte den Kopf. Der Schrank war leer, alle Schubladen waren ausgeräumt. Abgesehen von ein paar alten Blusen und Schals war nichts mehr da.
    »Schaut ganz so aus, als wollte sie nicht zurückkommen«, sagte der Hausmeister, schon wieder die Gedanken aussprechend, die mir wie vom Wind getriebene Blätter durch den Kopf wirbelten.
    Wohin konnte sie gefahren sein? Warum hatte sie alle ihre Sachen mitgenommen?
    »Ihre Miete ist nächsten Mittwoch fällig«, sagte der Hausmeister.
    »Bis dahin ist sie bestimmt zurück«, murmelte ich. Ich hatte es plötzlich eilig, hier wegzukommen. »Sie fährt ja jedes Wochenende weg«, erinnerte ich uns beide in dem Bemühen, dieses neueste
Rätsel zu lösen, dahinterzukommen, was Jo Lynn vorhatte. Hatte sie sich vielleicht eine andere Wohnung genommen, die näher beim Gefängnis war? Zog sie dieses Wochenende um? Hatte sie darum alle ihre Kleider mitgenommen? Hatte sie dafür das Geld gebraucht? Zwei Monatsmieten plus Kaution, rechnete ich im stillen, als der Hausmeister mit mir zusammen Jo Lynns Wohnung verließ und die Tür hinter uns abschloß. Diese Dinge summieren sich, sagte ich mir. Es war teuer, ein neues Leben anzufangen.
    »Wenn Sie meine Schwester sehen, würden Sie ihr bitte sagen, daß ich hier war und sie dringend sprechen muß?«
    »Schaut nicht so aus, als würde sie zurückkommen«, wiederholte der Mann in unheilschwangerem Ton.
    »Wo bist du, zum Teufel noch mal?« rief ich laut, als ich in meinem Wagen saß.
    »Sie ist zu Colin Friendly gefahren«, versicherte Larry, als ich ihn in South Carolina anrief. »Hör auf, dich ihretwegen verrückt zu machen, Kate. Sie ist in Raiford, von bewaffneten Wärtern und

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