Am Seidenen Faden
entbehren. Ich hab dich noch nie um etwas gebeten.«
»Das Essen war köstlich«, sagte meine Mutter mit dünner Stimme und bewegte unruhig ihre Hände im Schoß.
»Du erschreckst sie«, sagte ich.
»Hat Kate recht?« fragte Jo Lynn. »Erschrecke ich dich?«
»Ich würde jetzt gern in mein Zimmer gehen.«
»Du kannst gehen, wohin du willst, sobald wir das hier geklärt haben.«
»Herrgott noch mal, Jo Lynn, es reicht. Ich finde, du solltest jetzt nach Hause fahren.«
»Ist die Party vorbei?« fragte meine Mutter.
»Ja, Mama, die Party ist vorbei.«
»Die Party läuft auf vollen Touren«, erklärte Jo Lynn heftig, beinahe verzweifelt. »Ich glaube, keine von euch hat eine Ahnung, wie wichtig mir das ist. Es ist vielleicht meine letzte Chance. Die wollt ihr mir doch nicht nehmen, oder? Ich meine, denk doch mal, wie stolz du auf mich sein könntest, Mama. Du könntest allen deinen Freundinnen von deiner Tochter, der Rechtsanwältin, erzählen.«
»Natürlich, Kind.«
»Wenn du mir sagst, wo du dein Scheckbuch versteckt hast, hole ich es.«
»Mein Scheckbuch«, wiederholte meine Mutter und sah mich an.
»Du brauchst nicht Kate anzuschauen. Schau mich an. Sag mir, wo es ist, und ich hole es. Ich fülle alles aus. Du brauchst nur zu unterschreiben.«
»Natürlich, Kind.«
»Wo ist es? In deiner Handtasche?« Jo Lynn war schon aufgesprungen und auf dem Weg zu Saras Zimmer.
»Worum geht’s hier eigentlich?« fragte Sara argwöhnisch. Es war das erste Mal, daß sie nach unserer Aueinandersetzung das Wort an mich richtete.
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete ich.
Jo Lynn kehrte mit der Handtasche unserer Mutter zurück. »Ich kann dein Scheckbuch nicht finden. Wo hast du es?«
»Ich habe ihr Scheckbuch«, sagte ich und wappnete mich gegen den Wutausbruch, der unweigerlich folgen mußte.
» Du hast es? Wieso? Was tust du damit?«
»Es ist kein Geld da, Jo Lynn. Es ist völlig sinnlos, deswegen zu streiten.«
»Verdammt noch mal, wer hat dich denn zum Vormund bestellt?«
»Können wir uns nicht alle ein bißchen beruhigen« warf Michelle zaghaft ein.
»Halt die Klappe, Michelle. Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Sag du ihr nicht, sie soll die Klappe halten«, fuhr Sara sie an.
Jo Lynn warf die Arme hoch. »Na wunderbar! Geht nur alle auf mich los.«
»Ich mach dir einen Vorschlag«, sagte ich. »Bring mir die Bewerbung. Ich schreib den Scheck für die Anmeldegebühr aus, und dann geht es Schritt für Schritt weiter.«
»Nein, das geht nicht.«
»Was soll das heißen, das geht nicht?«
»Hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln.«
»Wieso behandle ich dich wie ein kleines Kind?«
»Du willst die Bewerbung sehen; du willst den Scheck ausstellen. Immer mußt du über alles die Kontrolle haben.«
»Willst du das Geld oder willst du es nicht?«
Sie ignorierte mich und fiel vor unserer Mutter auf die Knie. »Bitte, Mama, es ist so furchtbar peinlich für mich. Kannst du mir nicht einfach das Geld leihen? Zwing mich nicht zu betteln.«
Meine Mutter begann zu weinen. »Das war eine schöne Party.«
»Hör auf, Mama«, sagte Jo Lynn. »Bitte hör auf.«
»Sie kann nichts dafür«, warf ich ein.
»Doch, sie kann .« Jo Lynn stand auf und begann, vor dem Stuhl unserer Mutter auf und ab zu gehen wie ein wütender Tiger in seinem Käfig, die Krallen schon ausgefahren, zum tödlichen Sprung bereit. »Das tust du mir nicht an, Mama. Diesmal kommst du damit nicht durch.«
»Was soll das heißen?« fragte ich. »Was hat sie dir denn je angetan?«
»Nichts!« schrie Jo Lynn. »Sie tut absolut nichts. Stimmt’s, Mama? Hab ich recht? Du tust gar nichts!«
»Ich tu gar nichts«, wiederholte unsere Mutter, und ein schwacher Schimmer von Verständnis schien in ihren Augen aufzuleuchten.
»Du sitzt nur da und tust nichts. Genau wie immer.«
»Ich tu nichts«, stimmte unsere Mutter zu.
»Wenn dein Mann nach Hause kommt und dich anbrüllt, tust du nichts. Wenn er dich prügelt und dir den Mund mit Seife auswäscht, tust du nichts.«
»Nichts.«
»Wenn er deine Kinder terrorisiert, tust du nichts.«
»Ich tu nichts.«
»Jo Lynn, wozu das alles jetzt wieder aufwärmen?« flüsterte ich gequält. Es tat mir richtig weh zu sprechen.
»Weil sie nichts getan hat! Nie! In all den Jahren hat sie nie etwas getan.«
»Und sie hat dafür bezahlt. Sie hat weiß Gott teuer dafür bezahlt.«
»Nein – ich hab dafür bezahlt. Ich !« Jetzt begann auch Jo Lynn zu weinen.
»Was soll das heißen?
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