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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Lynn. Ich kam mir vor wie Alice beim Fünf-Uhr-Tee mit dem verrückten Hutmacher.
    »Ich auch«, versetzte unsere Mutter mit einem spitzbübischen Lächeln, als wir in ihr kleines Einzimmer-Apartment traten. »Wo ist dein Humor geblieben, Kate?«
    Den habe ich im Gerichtssaal gelassen, dachte ich, während ich mich mit einem raschem Blick im Zimmer umsah. Die Sitzecke bestand aus einem zweisitzigen Sofa, einem passenden Sessel und einem dazwischengequetschten niedrigen Glastisch. In der Ecke stand eine Stehlampe. Fotos von mir, meinen Töchtern und Jo Lynn standen auf sämtlichen verfügbaren Flächen; durch das Fenster sah man zum Parkplatz hinaus.
    »Es ist ja wie in einem Backofen hier drinnen. Wie hoch hast du die Heizung aufgedreht?« Jo Lynn trat zum Thermostaten. »Er steht auf siebenundzwanzig Grad! Wie hältst du das aus?«
    »Alte Menschen sind kälteempfindlicher«, antwortete unsere Mutter.
    Ich zog meine Jacke aus und warf sie über die Rückenlehne des beigefarbenen Sessels.
    »Was tust du?« fragte Jo Lynn, nahm die Jacke und gab sie mir wieder. »Wir bleiben nicht.«
    »Wieso? Wir können doch ein paar Minuten bleiben.«
    »Natürlich bleibt ihr«, sagte unsere Mutter. »Wir essen ein Stück Kuchen zusammen.«
    »Bestimmt nicht«, entgegnete Jo Lynn. »Willst du uns vergiften wie den armen alten Mr. Emerson?«
    Unsere Mutter war schon auf dem Weg in die kleine Kochnische, öffnete den Kühlschrank und nahm einen etwas schief geratenen Sandkuchen heraus. »Ach, Jo Lynn«, rief sie. »Du immer mit deinen Scherzen!«
    »Was ist denn das?« Ich war hinter sie getreten und entdeckte eine große Flasche Geschirrspülmittel im obersten Kühlschrankfach. »Mama, was hat das denn im Kühlschrank zu suchen?«

    Jo Lynn war mit ein paar schnellen Schritten bei uns. »Du lieber Gott, Mama, kochst du damit etwa?«
    »Natürlich nicht«, gab unsere Mutter mit einem wegwerfenden Lachen zurück, nahm das Spülmittel aus dem Kühlschrank und stellte es neben die Spüle. »Machst du nie einen Fehler?«
    »Irgend etwas stimmt da überhaupt nicht«, sagte ich, als wir nach Hause fuhren. »Sie ist ja völlig daneben.«
    Jo Lynn wedelte wegwerfend mit einer Hand. »Sie ist nur ein bißchen durcheinander.«
    Ich lud Jo Lynn ein, mit uns zu essen, und war froh, als sie ablehnte. Sie wolle abschalten und früh zu Bett gehen, sagte sie, damit sie morgen frisch aussehe. Es sei wichtig, daß Colin attraktive Menschen um sich herum sehe, zur moralischen Stärkung. Außerdem könne es sein, daß seine Anwälte versuchen würden, mit ihr Kontakt aufzunehmen, und sie wolle den Anruf keinesfalls verpassen.
    »Wie du meinst«, sagte ich und setzte sie vor dem Mietshaus am Blue Heron Drive ab. Ich wartete, bis sie im Haus war, ehe ich abfuhr. Meine Schwester himmelte einen Massenmörder an, und meine Mutter bewahrte das Geschirrspülmittel im Kühlschrank auf. Wirklich eine interessante Familie, dachte ich, mich an Roberts Worte erinnernd und lenkte den Wagen wieder Richtung I-95.
    Ich muß an dieser Stelle sagen, daß ich ganz anders bin als meine Schwester. Ich bin eine reife Persönlichkeit, vernünftig, keine Neigung zum Abheben. Im Gegenteil, ich bin eher ein wenig zu fest in der Realität verwurzelt. Ich weiß über meine Stärken und Schwächen genau Bescheid; ich habe mich mit meinen kleinen Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten gründlich auseinandergesetzt. Ich bin entschieden unsentimental; ich bin absolut keine Romantikerin. Was also hatte es da zu bedeuten, daß ich plötzlich ein völlig unerklärliches und überwältigendes Verlangen nach einem Mann verspürte, den ich seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte, einem eitlen Gockel, der mich umworben und dann fallengelassen hatte, als er bei mir nicht zum
Ziel gekommen war? Warum konnte ich sein hinterhältiges Lächeln nicht vergessen? »Du bist sehr schön«, hatte er gesagt, und dieser leicht dahingesagte Satz ging mir ständig im Kopf herum und vermischte sich mit Dwight Yokums schleppender Südstaatenstimme. Radiosender WKEY, merkte ich plötzlich und fragte mich, wann ich den eingestellt hatte.
    Tatsächlich bedarf es keiner tiefschürfenden Seelenerkundung, um meinen Gemütszustand auszuloten: Ich wurde älter, mein Leben mit Larry verlief in ruhigen, eingespielten Bahnen; ich hatte meine eigene Sterblichkeit im Gesicht meiner Mutter aufblitzen sehen; meine Schwester machte mich verrückt. Robert Crowe war eine Erinnerung an meine Jugend, meine Unschuld,

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