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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Stelle erschießen«, sagte Robert, und ich lachte. Es tat gut, die Kontrolle wiederzuhaben.
    »Hab ich irgendwas verpaßt?« fragte Jo Lynn. Ihre Stimme klang heiter, doch aus ihren Augen sprachen Zorn und Verletztheit, ein Ausdruck, den ich nur zu gut kannte. Sie haßte es, sich ausgeschlossen zu fühlen. Und sie haßte es, wenn man sich über sie lustig machte.
    »Ihre Schwester und ich kennen einander aus der High-School«, sagte Robert, als wäre das Erklärung genug.
    Aus irgendeinem Grunde schien ihr das zu reichen. »Ach tatsächlich? Dann können Sie sich bei mir für dieses Miniklassentreffen bedanken. Ich hab sie nämlich hierher geschleppt, und ich kann Ihnen sagen, das war nicht einfach.« Sie beugte sich vor, um ihm die Hand zu geben, und es war ein Wunder, daß ihr Busen nicht aus dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides quoll.
    »Ja, ich kann mich erinnern, daß es ziemlich schwierig ist, Kate zu etwas zu überreden, was sie nicht will.« Roberts Lächeln bekam etwas Spitzbübisches. Während unserer High-School-Zeit hatte er sechs Monate lang versucht, mich zu verführen, und mich wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel fallengelassen, als sich zeigte, daß das bei mir verlorene Liebesmühe war.
    »Wir sollten jetzt wirklich gehen«, sagte Jo Lynn und neigte sich mit einem kleinen Verschwörerlächeln zu Robert. »Unsere
Mutter terrorisiert die Bewohner des Seniorenheims, in dem sie lebt. Wir haben dort eine Besprechung.«
    »Interessante Familie«, bemerkte Robert Crowe, als Jo Lynn mich mit sich fortzog.
    »Und, hast du mit ihm geschlafen?« fragte sie auf der Fahrt zum Palm Beach Lakes Seniorenheim.
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Aber du wolltest gern«, hakte sie nach.
    »Ich war siebzehn; ich wußte überhaupt nicht, was ich wollte.«
    »Du wolltest gern mit ihm schlafen, aber du warst so ein Tugendschaf, daß du’s nicht getan hast, und du hast es ewig bedauert.«
    »Herrgott noch mal, Jo Lynn, ich habe seit Jahren nicht mehr an den Mann gedacht.«
    Da ich mich weigerte, mehr über ihn zu sagen, stürzte sich Jo Lynn in eine Rekapitulation des vergangenen Prozeßtages. Angela Riegert sei als Zeugin eine Katastrophe, erklärte sie; ihre Aussage habe der Verteidigung mehr geholfen als der Anklage. Es spiele überhaupt keine Rolle, daß sie die Verbindung zwischen dem Angeklagten und dem Opfer kurz vor seinem Verschwinden hergestellt hatte; sämtliche Geschworenen würden sich lediglich daran erinnern, daß Angela Riegert trank, kiffte und halb blind war.
    Marcia Layton wurde auf ähnliche Weise in Stücke gerissen und abserviert, ebenso die restlichen Zeugen des Tages, die sämtlich eine direkte Verbindung zwischen Colin Friendly und den ermordeten Frauen zur Zeit ihres Verschwindens hergestellt hatten.
    »Überhaupt nicht schlüssig«, behauptete Jo Lynn starrköpfig. »Augenzeugen sind bekanntermaßen unzuverlässig.«
    Es hatte keinen Sinn, sich mit ihr zu streiten. Jo Lynn glaubte immer genau das, was sie glauben wollte. Sie sah, was sie sehen wollte. Wenn sie Colin Friendly ansah, sah sie einen einsamen kleinen Jungen mit einem traurigen Lächeln und hielt ihn für absolut unschuldig, so sehr Opfer wie jede der Frauen, deren Tod ihm zur Last gelegt wurde.

    Genauso war es mit Andrew, Daniel und Peter gewesen. Andrew, den sie mit achtzehn heiratete, brach ihr erst den einen Arm, dann den anderen; Daniel, den sie sechs Jahre später heiratete, stahl ihr Geld und brach ihr die Rippen; Peter, den sie kurz nach ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag heiratete, um sich kurz vor ihrem dreiunddreißigsten von ihm scheiden zu lassen, warf sie in der Hochzeitsnacht eine Treppe hinunter. Doch es waren Andrew, Daniel und Peter, die sie verließen, nicht umgekehrt. Ich versuchte sie zu überreden, in eine Therapie zu gehen, aber davon wollte sie nichts wissen. »Es ist alles Mamas Schuld«, pflegte sie scherzhaft zu sagen. (»Sie scherzt mit der Wahrheit«, sagte unsere Mutter und beugte den Nacken, die Verantwortung auf sich nehmend.)
    »Kannst du nicht ein bißchen langsamer gehen«, nörgelte Jo Lynn, als wir die Eingangstür des Heims erreichten.
    »Warum mußt du so hohe Absätze tragen?« fragte ich, meinen Ärger über sie auf ihre fuchsienroten Pumps übertragend.
    »Gefallen dir meine Schuhe nicht?«
    Das Foyer war groß und freundlich, weiße Wände, grüne Bäume, Sesselbezüge in kühlen Blumenmustern. Mindestens ein Dutzend alte Herrschaften saßen in Reih und Glied in weißen

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