Am Seidenen Faden
Rattanschaukelstühlen und blickten so gespannt durch das große Fenster hinaus, als wären sie im Kino. Schütteres Haar, Altersflecken, gekrümmte Rücken und eingefallene Gesichter, ein alter Mann, der sich an seinem Hosenschlitz zu schaffen machte, eine alte Frau, die ihre Zahnprothese zurechtrückte – ich sah sie alle an und erblickte die Zukunft. Sie erschreckte mich zu Tode.
Unsere Mutter erwartete uns vor Mrs. Winchells Büro. »Wo bist du so lange gewesen? Du kommst doch sonst nie zu spät.« Sie blickte von mir zu Jo Lynn.
»Du brauchst mich gar nicht so anzusehen«, sagte Jo Lynn heftig, sofort in Abwehrstellung.
»Ich freu mich doch, dich zu sehen«, sagte unsere Mutter.
Jo Lynn gab ein Geräusch von sich, das halb Lachen, halb verächtliches Prusten war, und wandte sich ab.
»Tut mir leid, Mama«, sagte ich. »Es ist meine Schuld. Ich habe zufällig einen alten Freund aus der High-School getroffen.«
»Mit dem sie gern geschlafen hätte, es aber nicht getan hat«, warf Jo Lynn ein.
»Was?« sagte meine Mutter.
»Jo Lynn …«
»Es ist wahr«, sagte Jo Lynn und sah unsere Mutter lächelnd an. »Hat sie dir erzählt, daß ich heirate?«
Bei der nachfolgenden Besprechung gab sich Mrs. Winchell, deren tomatenrotes Kostüm ihre samtschwarze Haut vorteilhaft zur Geltung brachte, sich jedoch mit dem Rest ihres vorherrschend kanariengelben Büros biß, keine Mühe, wiederholte Blikke zu ihrer Uhr zu verbergen. Sie habe nicht viel Zeit, erklärte sie zur Eröffnung der Besprechung; wir hätten uns ja beinahe vierzig Minuten verspätet, und bedauerlicherweise habe sie eine Verabredung zum Abendessen in Boca.
»Hab ein Mädchen kennengelernt, hab geheiratet. Bin nach Boca gezogen. Hab mich scheiden lassen. Bin nach Delray gezogen.«
»Vielleicht könnten Sie Ihren Töchtern erklären, was Sie gegen Mr. Ormsby vorzubringen haben«, begann Mrs. Winchell.
Unsere Mutter sah sie an, zuerst überrascht, dann verwirrt. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wovon Mrs. Winchell sprach.
»Haben Sie mir nicht gesagt, daß Mr. Ormsby Sie belästigt?« sagte Mrs. Winchell. »Fred Ormsby ist einer unserer Hausmeister«, erklärte sie mit einem Blick auf die Uhr.
»Ein sehr netter Mann«, fügte unsere Mutter hinzu.
»Hat er Sie nicht mit nächtlichen Anrufen belästigt?«
»Weshalb sollte er das tun?«
Jetzt war es Mrs. Winchell, die verwirrt aussah. »Richtig, weshalb. Er hat es nicht getan. Ich wiederhole nur, was Sie mir erzählt haben.«
»Nein«, entgegnete meine Mutter. »Fred Ormsby ist ein ausgesprochen netter Mann. Er würde niemals so was tun. Sie müssen das mißverstanden haben.«
»Dann gibt es also kein Problem?« fragte meine Schwester und sprang schon auf.
»Anscheinend nicht.« Mrs. Winchell lächelte, unverhohlen erleichtert, daß die Besprechung ein so überraschend schnelles und befriedigendes Ende gefunden hatte. Wenn ihr noch etwas anderes auf dem Herzen lag, so war sie nicht geneigt, darauf jetzt einzugehen.
»Was sagst du dazu?« fragte ich meine Schwester, als wir mit unserer Mutter im Aufzug in die vierte Etage hinauffuhren.
Jo Lynn zuckte die Achseln. »Mrs. Winchell hat offensichtlich ihre Schützlinge verwechselt.«
»Ich trau dieser Frau nicht über den Weg«, bemerkte unsere Mutter.
Jo Lynn lachte. »Du magst sie nur nicht, weil sie schwarz ist.«
»Jo Lynn!« rief ich.
»Mrs. Winchell ist schwarz?« fragte unsere Mutter.
»Wieso weiß sie nicht, daß die Frau schwarz ist?« flüsterte ich, als wir aus dem Aufzug stiegen und den pfirsichfarbenen Korridor entlanggingen. »Glaubst du, sie hat was mit den Augen?«
»Sie hat es einfach nicht bemerkt.«
»Wie kann man so was nicht bemerken?«
»Hat euch noch nie jemand gesagt, daß es unhöflich ist, in Gegenwart anderer zu tuscheln?« fragte unsere Mutter spitz. Sie blieb vor der Tür ihres Apartments stehen, machte aber keine Anstalten, sie aufzusperren.
»Worauf wartest du?« fragte Jo Lynn. »Es ist niemand zu Hause.«
Meine Mutter griff in ihre Tasche, um ihre Schlüssel herauszuholen. Sie war elegant gekleidet in ein zartrosa Wollensemble und trug eine Perlenkette um den Hals. »Ich habe gerade überlegt.«
»Was denn?« fragte ich.
»Ich hab überlegt, warum Mrs. Winchell mich nicht mag.« Ihre Stimme verhieß Tränen.
»Sie mag dich nicht, weil du Jüdin bist«, sagte Jo Lynn.
»Ich bin Jüdin?« fragte unsere Mutter.
»Sie macht nur Spaß, Mama«, erklärte ich hastig mit einem zornigen Blick zu Jo
Weitere Kostenlose Bücher