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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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an eine Zeit, als mein ganzes Leben noch vor mir gelegen hatte. Und außerdem war er natürlich ein Symbol all dessen, was begehrenswert, aber unerreichbar war.
    Jo Lynn hatte recht. Ich hatte mich, als ich siebzehn war, heftig danach gesehnt, mit ihm zu schlafen. Mehr als einmal war ich ernstlich in Versuchung gewesen, alle Vorsicht und moralischen Grundsätze fahren zu lassen. Ich weiß nicht genau, was mich davon abgehalten hat, außer der Gewißheit, daß er, wenn ich einmal nachgegeben hatte, das Interesse verlieren und sich der nächsten zuwenden würde. Nun, er hatte auch so das Interesse verloren und sich der nächsten zugewendet. Bald danach war er weggezogen, und mir war nicht einmal die Möglichkeit geblieben, es mir anders zu überlegen.
    Ich hatte Jo Lynn belogen, als ich behauptet hatte, ich hätte seit Jahren nicht mehr an Robert gedacht. Tatsache war, daß ich häufiger an ihn gedacht hatte, als ich mir selbst eingestehen wollte, häufiger, als mir selbst bewußt gewesen war. Sein Gesicht mochte verblaßt, ein verschwommener Schatten geworden sein, aber er war immer da, immer irgendwo im Hintergrund, ein Symbol einfacherer Zeiten, jugendlicher Leidenschaft, verpaßter Gelegenheiten.
    Das Abendessen stand schon auf dem Tisch, als ich nach Hause kam. Ich war Larry dankbar. Er kochte besser als ich, wahrscheinlich
weil es ihm Spaß machte und mir nicht. Wie dem auch sei, er hatte irgendein Hühnergericht gemacht, von dem Michelle nichts aß, weil es, wie sie behauptete, zu stark gewürzt war, und Sara nichts nahm, weil sie ihrer Meinung nach zu dick wurde. Ich schlang die ganze Portion auf meinem Teller heißhungrig hinunter und verschluckte mich an einem Stück Hühnchen.
    »Geht’s wieder?« fragte Larry und klopfte mir den Rücken.
    »Soll ich’s mal mit dem Heimlich-Handgriff probieren?« Michelle war schon aufgesprungen. Sie hatte im vergangenen Sommer im St. Johns Krankenhaus einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht und fragte dauernd, ob sie’s einmal mit dem Heimlich-Handgriff probieren sollte.
    »Tut mir leid, Schatz, nicht nötig«, antwortete ich.
    Sara und Michelle standen auf, während Larry und ich noch beim Essen waren, Michelle, um ihre Hausaufgaben zu machen, Sara, um noch einmal in die Schule zu fahren. Sie wollten für eine geplante Modenschau proben, bei der sie vorführen sollte. Sie könne auf keinen Fall zu spät kommen, erklärte sie. Interessant, dachte ich, da Sara sich sonst keinen Pfifferling darum scherte, ob sie pünktlich war oder nicht.
    Larry und ich plauderten ein wenig über die Ereignisse des Tages, dann kehrte Schweigen ein. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn beim Essen musterte; er war ein sympathisch aussehender Mann, mittelgroß und kompakt, das Haar schon ein wenig schütter, aber er trug es mit Anstand, die Augen graublau, der Teint hell, Arme und Beine eher mager. Was er im Lauf der Jahre an Gewicht zugelegt hatte, hatte sich rund um seinen Bauch angesetzt. Er war im vergangenen Juli fünfzig geworden, ohne Wirbel und ohne Depression. Als ich ihn gefragt hatte, wie man sich mit fünfzig fühle, hatte er gelächelt und gesagt: »Es ist auf jeden Fall besser als die Alternative.« Wie würde Robert auf eine ähnliche Frage antworten? überlegte ich und versuchte die Erinnerung an ihn abzuschütteln, während ich den Tisch abdeckte. Aber es half nichts. Robert verfolgte mich in die Küche, während ich saubermachte, drängte sich zwischen Larry und mich, während wir vor
dem Fernseher saßen, folgte mir ins Schlafzimmer, nachdem ich es aufgegeben hatte, auf Saras Heimkehr zu warten.
    Larry war schon im Bett. Die vierzehn Kissen, die tagsüber den elfenbeinfarbenen Bettüberwurf zieren, lagen wild verstreut im ganzen Zimmer. Larry haßt die Kissen. Sie sind nur lästiger Ballast, behauptet er und hat völlig recht damit. Aber es macht mir einfach Freude, sie morgens in gefälligen kleinen Reihen auf dem Bett zu drapieren, und es macht mir auch nichts aus, sie abends herunterzunehmen und säuberlich zu stapeln. Wahrscheinlich gibt es mir die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben. Larry hat keine solchen Illusionen. Er wirft sie einfach vom Bett runter.
    Ich zog mich aus und schlüpfte zu meinem Mann ins Bett. Im Dunklen berührte ich ihn. Er seufzte, drehte sich um und nahm mich in die Arme, erfreut über meine Berührung. »Hallo, Funny Face«, flüsterte er, als ich seinen Hals küßte und meine Finger in Schnörkeln durch sein krauses Brusthaar langsam abwärts

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