Am Seidenen Faden
Gesicht. »Immer fragst du nach Sara. Willst du nicht wissen, was ich für einen Tag gehabt habe?«
»Was du für einen Tag gehabt hast?«
»Ja. Ich bin auch ein Mensch, genau wie Sara, und ich habe auch meine guten und meine schlechten Tage. Genau wie jeder andere.«
Augenblicklich hellhörig, richtete ich mich in den Kissen auf.
Ich war auf eine Szene mit Sara vorbereitet gewesen, nicht mit Michelle. »Aber ja, natürlich.«
»Mich fragt nie jemand, wie es war«, fuhr sie fort. Sie erinnerte mich an ein Aufziehspielzeug, das jemand überdreht hatte und das jetzt, außer Kontrolle geraten, nicht mehr aufhören konnte, sich zu drehen. »Ich hab Daddy gefragt, was er für einen Tag gehabt hat; ich hab dich gefragt, ob du einen schweren Tag gehabt hast; ich frage immer jeden, aber will vielleicht mal jemand wissen, wie’s bei mir war?«
»Michelle …«
»Nein. Du sagst mir nur, ich soll mit meinem Eis vom Teppich runtergehen …«
»Michelle …«
»Du fragst nach Sara …«
»Schatz, bitte …«
»Interessiert es hier vielleicht jemanden, daß ich in meinem Mathetest fünfundachtzig Punkte bekommen hab? Daß ich die Beste in der Klasse war? Nein! Keinen Menschen interessiert das!« Sie rannte aus dem Zimmer.
Ich sprang auf. »Michelle, warte doch! Natürlich interessiert es uns.« Ich stolperte über meine Schuhe, stieß mir die große Zehe an, humpelte hinter ihr her. Sie schlug mir die Tür zu ihrem Zimmer vor der Nase zu.
»Schatz, laß mich rein, bitte.« Ich klopfte leicht an die Tür, dann etwas lauter. »Michelle, bitte laß mich rein.«
Langsam öffnete sich die Tür. Michelle stand weinend auf der anderen Seite. Ich ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
»Nicht«, sagte sie leise, und ich schwankte einen Moment auf Zehenspitzen, ehe ich auf die Fersen zurücksank und mein Gleichgewicht wiederfand.
»Du hast in deinem Mathetest fünfundachtzig Punkte bekommen?« wiederholte ich und merkte, wie mir die Tränen in die Augen traten. »Das ist wirklich toll.«
Sie sah mich nicht an. »Ich war die Beste.«
»Darauf kannst du sehr stolz sein.«
Sie wich ins Zimmer zurück und ließ sich auf ihr Bett fallen, ohne mich anzusehen. Im Gegensatz zu Saras Zimmer, dessen Dekoration vornehmlich aus unterschiedlichen Abstufungen von Chaos bestand, war Michelles vorwiegend in Rosa und Weiß gehalten, blitzsauber und aufgeräumt. Ihr Bett war ordentlich gemacht, die rosa Kissen mit dem weißen Streublumenmuster lagen hübsch angeordnet auf dem farblich passenden Bettüberwurf; ihre Kleider hingen im Schrank und waren nicht wie bei Sara achtlos über den ganzen Boden verstreut. Ich zuckte innerlich zusammen. Selbst hier, in Michelles Zimmer, schaffte es Sara, sich in den Vordergrund zu spielen und ihre jüngere Schwester an die Wand zu drücken.
Vorsichtig näherte ich mich dem Bett. Ich setzte mich erst, nachdem ich ein entsprechendes Zeichen erhalten hatte, Michelle mir durch ein kurzes Nicken zu verstehen gegeben hatte, daß sie nichts dagegen hatte. »Es tut mir wirklich leid.«
Das Nicken wurde stärker, eine zitternde Lippe verschwand unter der anderen. Sie wandte sich ab.
»Manchmal verstricken sich Erwachsene so in ihrer eigenen kleinen Welt, daß sie die anderen um sich herum ganz vergessen«, begann ich. »Besonders wenn die um sie herum tüchtig und vernünftig sind wie du.« Ich strich ihr behutsam über das wellige braune Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Sie entzog sich nicht, und dafür war ich dankbar. »Wir neigen dazu, unsere ganze Kraft denen zu widmen, die es uns am schwersten machen, und das ist nicht gerecht, weil du mehr verdienst. Viel mehr. Es tut mir leid, Michelle. Wirklich. Ich hab dich so schrecklich lieb. Darf ich dich mal in den Arm nehmen?« flüsterte ich.
Stumm sank sie an mich. Ich drückte mein Gesicht in ihr weiches braunes Haar; ihr Geruch war so süß wie der eines neugeborenen Kindes. Die Wärme ihres schmalen Körpers strömte in mich hinein und schweißte uns zusammen. »Ich hab dich lieb«, wiederholte ich und küßte sie auf den Scheitel, einmal, zweimal, so oft, wie sie es mir erlaubte.
Michelle wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht, machte
aber keine Anstalten, sich von mir zu lösen. »Ich hab dich auch lieb.«
So saßen wir eine Weile und genossen die Nähe und hatten beide nicht den Wunsch, uns voneinander zu trennen. Zum erstenmal an diesem Tag war ich wirklich ruhig.
Larrys Stimme störte den Frieden. »Kate?« rief er. »Kate, wo
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