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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Klienten, die an diesem Tag kamen, waren in Aufruhr. Keiner sprach leise. Keiner bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Alle brüllten – entweder schrien sie sich gegenseitig an oder sich selbst oder mich. Vielleicht war es ein schlichter Fall von Übertragung, daß meine Stimmung sich durch sie ausdrückte; aber eher war es wohl die buchstäblich atemberaubende Schwüle, die sich in den letzten vierundzwanzig Stunden wie eine riesige Zeltbahn über Palm Beach gesenkt hatte und jeden zu ersticken drohte, der sich ins Freie wagte. Oder vielleicht war es auch einfach ein verflixter Tag.
    Wie dem auch sei, abends um sechs war ich restlos fertig. Ich wollte nur noch nach Hause und ins Bett, aber ich wußte, daß das nicht ging. Larry hatte uns ja zu einem Abendessen mit »zufriedenen Kunden« angesagt. Ich lächelte. Es tat gut zu wissen, daß irgend jemand irgendwo mit irgend etwas zufrieden war.

    Ehe ich aus der Praxis ging, hörte ich noch einmal meinen Anrufbeantworter ab und entdeckte mit Bestürzung, daß man noch zweimal aus Saras Schule angerufen hatte: Einmal kurz nach Mittag, um mir mitzuteilen, daß Sara noch immer nicht zum Unterricht erschienen war, und das zweite Mal am Ende des Schultags mit der Meldung, daß Sara sämtliche Unterrichtsstunden versäumt hatte und ihr zeitweiliger Unterrichtsausschluß drohe. Ich sah auf meine Uhr, es war zu spät, um noch in der Schule anzurufen. Und was hätte ich denn schon sagen können? Vielleicht war eine Suspendierung genau das, was Sara brauchte, so nach dem Motto, wer nicht hören will, muß fühlen, aber überzeugt davon war ich nicht. Sie würde den Schulausschluß genauso abschütteln wie alles andere. Nur mir würde man das Leben damit schwermachen, nicht ihr.
    Während ich auf dem I-95 nach Norden fuhr, mich ungeduldig durch das Freitagabendgewühl schlängelte, nahm ich mir fest vor, bei dem Gespräch mit Sara absolut ruhig zu bleiben. Ich würde ihr einfach mitteilen, daß die Schule wiederholt wegen ihres Schwänzens angerufen hatte und daß eine Erklärung von ihr weder erwünscht noch notwendig war. Man würde sich am Montag in der Schule mit ihr auseinandersetzen. Bis dahin hätte sie Stubenarrest. Ich wußte, daß Sara schreien, schimpfen, Türen knallen und all das übliche tun würde, um mich in einen Streit zu verwickeln. Sie kann tun, was sie will, sagte ich mir, als ich vom Highway nach Westen abbog, ich werde meine Stimme nicht erheben. Ich werde ruhig bleiben.
    »Was soll das heißen, sie ist nicht da?« schrie ich keine zwei Sekunden, nachdem ich das Haus betreten hatte, meine jüngere Tochter an.
    »Was schreist du mich an?« fragte Michelle. Sie stand mitten im Zimmer, rechts vom großen Glastisch und zwischen den beiden beigefarbenen Sofas, in der Hand ein Kirscheis am Stiel, das ihre Lippen blutrot gefärbt hatte.
    Sie sieht aus wie eine hübsche kleine Porzellanpuppe, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Vielmehr sagte ich: »Könntest du
mit dem Ding da vom Teppich verschwinden?« und ging ohne Aufenthalt weiter in mein Zimmer. Sie folgte mir.
    »Du hast wohl einen schweren Tag gehabt?«
    Ich lächelte. Sara hätte mich angeschrien; Michelle sorgte sich um mich. »Das kann man wohl sagen.« Ich registrierte plötzlich, daß in der Dusche Wasser rauschte, und sah zur geschlossenen Tür des Badezimmers, das sich an unser Schlafzimmer anschloß. »Wann ist Daddy denn nach Hause gekommen?«
    »Vor ein paar Minuten. Er hat hundert geschafft.«
    »Hundert was?«
    »Beim Golf. Er hat’s mit hundert Schlägen geschafft. Das ist angeblich gut«, erklärte sie mir, warf einen Blick auf den hellen Teppich unter ihren Füßen und stopfte rasch den Rest ihres Eises in den Mund. Ein feiner Faden roter Flüssigkeit rann zu ihrem Kinn hinunter. Es sah aus, als hätte sie sich beim Rasieren geschnitten.
    Ich sagte: »Na, wenigstens hat einer einen guten Tag gehabt.«
    »Er hat gesagt, es war furchtbar heiß, aber es hätte ihm geholfen, sich zu konzentrieren.«
    Ich öffnete die oberen Knöpfe meiner weißen Bluse, streifte meine Schuhe ab, und ließ mich aufs Bett, in das Heer bunter Kissen fallen. »Hat er was von Sara gesagt?«
    »Was denn?«
    Zum Beispiel, wo sie sich den ganzen Tag herumgetrieben hat, hätte ich am liebsten geschrien, tat es aber nicht. Ruhe, mahnte ich mich stillschweigend. Hier hilft nur Ruhe. »Hat sie angerufen?« fragte ich statt dessen.
    »Wieso machst du immer so einen Wirbel um Sara?« Michelle machte ein gekränktes

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