Am Seidenen Faden
ich mich zu sorgen brauchte.
Der Thanksgiving-Tag verlief überraschenderweise sehr friedlich. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Wir feierten bei uns, und alle zeigten sich von ihrer besten Seite. Larry war ein vorbildlicher Gastgeber, tranchierte mit Könnerhand die Pute und unterhielt sich angeregt mit meiner Mutter, die heiter und gesprächig war und keine Spuren ihres jüngsten Verfolgungswahns zeigte. Jo Lynn erschien sehr konservativ gekleidet in weißer Seidenbluse und schwarzer Samthose und verkniff es sich den ganzen Abend, Colin Friendly oder den Prozeß, der gerade eine Woche ausgesetzt wurde, zu erwähnen. Sara, in deren aschblonde Mähne sich die ersten braunen Wurzeln hineinschoben, half in der Küche und widmete sich aufmerksam ihrer Großmutter. »Wer ist denn das niedliche kleine Ding?« flüsterte meine Mutter irgendwann am Abend, und ich lachte, weil ich glaubte, sie mache einen Scherz. Erst später wurde mir klar, daß sie es wirklich nicht gewußt hatte. Als die Feier zu Ende ging, erklärte Michelle den Abend zu einem durchschlagenden Erfolg. »Fast wie bei einer normalen Familie«, sagte sie, als sie mir ihre Wange zum Gutenachtkuß bot.
Was Robert anging, so hatten wir zwar über Anrufbeantworter ab und zu Kontakt, aber zu einem Gespräch kam es nie. Wenn er anrief, war ich gerade in einer Sitzung. Wenn ich zurückrief, war er gerade in einer Besprechung. Er denke an mich, hinterließ er mir auf dem Anrufbeantworter; ich denke über sein Angebot nach, hinterließ ich auf seinem.
Am Montag nach Thanksgiving wartete eine Nachricht, als ich in der Praxis ankam. »Schluß jetzt mit diesem Unsinn«, tönte Roberts Stimme. »Ich erwarte dich Mittwoch mittag in meinem
Büro. Ich führ dich herum, mach dich mit den Leuten hier bekannt, zeig dir, wie wir arbeiten, und dann gehen wir zusammen zum Mittagessen. Ich bin gespannt auf deine Ideen.« Er nannte die Adresse des Senders und beschrieb mir den Weg dorthin. Mit keinem Wort bat er mich, zurückzurufen und die Verabredung zu bestätigen. Da er wußte, daß der Mittwoch mein freier Tag war, setzte er einfach voraus, daß ich zur Verfügung stünde. Daß ich bereits andere Pläne haben könnte, kam offensichtlich überhaupt nicht in Betracht.
Zufällig hatte ich aber meiner Mutter versprochen, mit ihr am Mittwoch einkaufen zu gehen. Wir machen uns einen richtig schönen Tag, hatte ich nach dem Thanksgiving-Essen in meiner Erleichterung darüber, wie harmonisch der Abend verlaufen war, zu ihr gesagt. Erst würden wir Weihnachtseinkäufe machen, dann zusammen zu Mittag essen, hatte ich vorgeschlagen. Auf keinen Fall würde ich sie jetzt anrufen und absagen, weil ich ein besseres Angebot hatte. Wir waren schließlich nicht mehr in der High-School. Diese Verabredung hier allerdings war eine geschäftliche Angelegenheit, sagte ich mir, die Hand schon am Hörer. »Wir können ja immer noch morgens unsere Einkäufe machen«, sagte ich zu meiner Mutter.
»Das ist aber ein netter Gedanke«, meinte sie, als hätten wir nie darüber gesprochen.
Am Mittwochmorgen holte ich sie um zehn Uhr ab. Sie war schon unten im Foyer, stand allein an der Tür, ihre Handtasche fest an sich gedrückt, und sah sich mißtrauisch um. Ich winkte ihr. Sie machte ein verdutztes Gesicht, als wäre sie überrascht, mich zu sehen, dann eilte sie heraus.
»Alles in Ordnung?« fragte ich, als ich ihr ins Auto half und sah, daß sie ihre Handtasche immer noch fest an sich drückte, als müßte sie sie vor diebischen Händen bewahren. »Mutter?« fragte ich noch einmal, nachdem ich mich ans Steuer gesetzt hatte. »Ist irgendwas? Geht es dir gut?«
»Ich muß dir was zeigen«, flüsterte sie. Dann: »Fahr erst mal los.«
Langsam, widerstrebend, fuhr ich auf den Palm Beach Lakes Boulevard hinaus. »Was denn?« fragte ich. »Was willst du mir zeigen?«
»Ich zeig’s dir, wenn wir dort sind.«
Ich wollte protestieren, aber da merkte ich, daß sie mir schon gar nicht mehr zuhörte. Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf konzentriert, die Straße vor uns zu beobachten. Mit einem schnellen Blick auf ihr Profil suchte ich nach äußeren Zeichen von Verwirrung, aber ihr graues Haar war frisch gewaschen und gepflegt, ihre dunkelbraunen Augen wirkten klar und zielgerichtet, um ihren kleinen Mund spielte ein Lächeln. Alles schien normal zu sein. Nur ihre Haltung, die Art, wie sich ihr Oberkörper schützend über ihre Handtasche krümmte, schien ungewöhnlich. Dann sah ich plötzlich
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