Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
meine Schwester hatte zweimal angerufen. Es war meine Schuld, daß ich nicht zurückgerufen hatte. Ich konnte den Zorn über die Unbesonnenheit meiner Schwester nicht an meiner Tochter auslassen. Und was half es, meinen Zorn an Jo Lynn auszulassen? Hatte das je etwas genützt?
    Es wurde vier Uhr, und ich hatte mich in einen Zustand unnatürlicher Ruhe hineingeredet. Ich würde die beiden an der Tür begrüßen, meiner Schwester danken, daß sie Sara nach Hause gebracht hatte, sie so schnell wie möglich weiterschicken und das Gespräch mit Sara aufschieben, bis Larry nach Hause kam. Wir waren uns bereits vorher darüber einig geworden, daß es am besten sei, sie ohne das Donnerwetter zu empfangen, das sie bestimmt erwartete. Wir würden ihr keinen Anlaß zu Wutausbrüchen geben. Je weniger wir sagten, deso besser würde es sein. Sara war nicht dumm; sie wußte, was sie angestellt hatte. Ihr Handeln würde Folgen haben; Larry und ich mußten nur noch entscheiden, wie diese Folgen aussehen sollten.
    Jo Lynn drängte sich an mir vorbei, sobald ich die Tür öffnete.
    »Wo ist Sara?« fragte ich und sah zu dem alten Toyota hinüber, aus dem Öl auf den Asphalt meiner Auffahrt tropfte.
    »Im Auto.«
    Ich versuchte durch das schmutzige Glas der Windschutzscheibe zu sehen. »Wo? Ich sehe niemanden.«
    »Sie versteckt sich.«
    »Sie versteckt sich? Das ist ja lächerlich. Was erwartet sie denn von mir?« Ich machte Anstalten hinauszugehen.
    »Geh lieber nicht raus«, warne Jo Lynn. Der Ton ließ mich innehalten. »Ich hab ihr versprochen, daß ich zuerst mit dir rede.«
    »Ich finde, wir haben schon genug geredet«, entgegnete ich und merkte, wie die Ruhe ängstlicher Ungeduld wich.

    Jo Lynn griff an mir vorbei und schloß die Haustür. »Ich hab’s ihr versprochen«, wiederholte sie. »Du willst mich doch nicht zur Lügnerin machen, oder?«
    Ich würde am liebsten Hackfleisch aus dir machen, hätte ich gern gesagt. Ich sah sie an in ihrem weißen T-Shirt und den weißen kurzen Shorts und hielt mich zurück. Ich brachte sogar ein Lächeln zustande.
    »Du bist wütend«, konstatierte sie. Offensichtlich fehlte meinem Lächeln die Aufrichtigkeit. Außerdem hatte Jo Lynn immer schon ein Talent dafür gehabt, das Offenkundige festzustellen.
    »Du hast dir die Haare schneiden lassen«, bemerkte ich.
    Sie griff sich unter die blonden Locken und bauschte sie auf. »Ja, heut nachmittag. Gefällt’s dir? Ich hab sie nur ein paar Zentimeter kürzen lassen.«
    »Es sieht sehr hübsch aus.«
    »Hör mal, ich weiß, ich hätte Sara nicht bitten sollen mitzukommen, ohne es erst mit dir zu klären«, sagte sie, ganz überraschend für mich. Es war nicht Jo Lynns Art, sich für ihre Fehler zu entschuldigen. »Aber ich war wirklich total nervös und wollte da nicht allein hinfahren. Ich hab wirklich moralische Unterstützung gebraucht, und ich wußte ja, daß du nicht mitkommen würdest …«
    »Soll das heißen, daß es meine Schuld ist?«
    »Nein, natürlich ist es nicht deine Schuld. Niemand ist schuld. Ich sage nur, wenn du ein bißchen verständnisvoller gewesen wärst, ein bißchen mehr Teilnahme …«
    »... dann wäre ich mit dir gefahren, und du hättest meine Tochter nicht in diesen Dreck reinziehen müssen«, fiel ich ihr ins Wort. Das war mehr die Art von Entschuldigung, die ich von Jo Lynn gewöhnt war.
    »Na ja«, sagte sie. »Ich hätte dich wirklich gebraucht. Aber du warst ja nicht für mich da.«
    Ich nickte und holte tief Luft. Ich brannte innerlich. Der Schweiß brach mir auf Stirn und Oberlippe aus. Jo Lynn bemerkte es nicht.

    »Es war so unglaublich, Kate«, babbelte sie weiter. »Es war einfach umwerfend, da im Gefängnis mit Colin zusammenzusein.«
    Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, besann mich aber sogleich eines Besseren. Je mehr ich protestierte, desto länger würde diese Szene dauern. Ich sagte also gar nichts, wischte mir den Schweiß von der Lippe und wartete darauf, daß sie zum Ende käme.
    »Ich hatte mir extra ein neues weißes Kleid gekauft, was ganz Besonderes, weil ich dachte, das würde ihm gefallen. Und ich hab recht gehabt, er fand es ganz toll. Es ist sehr schick, nicht zu kurz und nicht zu tief ausgeschnitten. Dezent, weißt du.«
    Ich nickte. Meine Definition von dezent und Jo Lynns Definition von dezent standen nicht im selben Lexikon.
    »Kurz und gut, ich war den ganzen Nachmittag das reinste Nervenbündel. Aber Colin war wirklich wunderbar, im Gerichtssaal hat er immer wieder zu mir

Weitere Kostenlose Bücher