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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden Kostenlos Bücher Online Lesen
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zu sagen. Ohne ein Wort ging Sara an mir vorbei direkt zu ihrem Zimmer. Sie sah aus wie Jo Lynn.

12
    Wir bemühten uns, kein Aufhebens von Saras Frisur zu machen, da wir überzeugt waren, jede negative Bemerkung würde sie nur weiter in die Opposition treiben, und jedes positive Wort würde falsch ausgelegt werden. Ich wagte ein kleinlautes: »Und, was ist es für ein Gefühl, blond zu sein?« Larry brummte irgend etwas davon, daß jeder hin und wieder ein bißchen Abwechslung brauche. Es blieb wie üblich Michelle überlassen, rundheraus die Wahrheit zu sagen. »Mensch, was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?« schrie sie, sobald sie ihre Schwester sah. »Das sieht ja scheußlich aus.«
    Aber so scheußlich sah es gar nicht aus. Man mußte sich nur daran gewöhnen, und im Lauf der nächsten Wochen versuchten wir das aufrichtig. Aber Sara machte einem niemals etwas leicht, und sie war abwechselnd unzugänglich, unfreundlich, aggressiv und feindselig. Alles andere als reuig oder zerknirscht. Es fiel ihr nicht ein, sich dafür zu entschuldigen, daß sie uns eine Nacht voller Angst und Sorge bereitet hatte; es fiel ihr nicht ein, uns zu versprechen, daß sie so etwas nie wieder tun würde. Eine Zeitlang versuchte ich so zu tun, als wäre sie eine Figur in einem Theaterstück, die vorübergehend in unsere Welt eingeführt worden war, um für dringend notwendige Entspannung durch Komik zu sorgen. Aber auf die Dauer fiel es schwer, sie komisch zu finden. Interessanterweise schrieb sie tatsächlich, genau wie Jo Lynn vorausgesagt hatte, einen Aufsatz über ihren Tag bei Gericht. Und natürlich bekam sie ein A. Dies zu den Konsequenzen.
    Etwa um diese Zeit begann Larrys allmählicher Rückzug aus der Familie. Anfangs mied er nur Sara. Je weniger Kontakt mit ihr, sagte er sich, desto geringer die Gefahr offenen Konflikts und neuen Kummers. Er sorgte also dafür, daß er nicht da war, wenn Sara zu Hause war. Seine Arbeitstage wurden länger, seine Verabredungen zum Golfspiel häufiger. Die Folge davon war natürlich,
daß auch Michelle und ich ihn weit seltener zu Gesicht bekamen, doch in diesen Wochen vor Thanksgiving blieb diese langsame Abkehr von uns größtenteils unbemerkt. Ich hatte selbst ziemlich viel zu tun. Die Wochen vor den Weihnachtsfeiertagen sind nicht, wie man uns glauben machen will, eine Zeit des Friedens und der Freude. Ganz im Gegenteil. Das bezeugte mein Terminkalender in der Praxis, der bis zum Ende des Jahres voll war.
    Hinzu kamen die Sorgen mit meiner Mutter und meiner Schwester, die in meinen Augen, jede auf ihre eigene Art, völlig verrückt geworden waren. Meine Schwester saß weiterhin jeden Tag zur moralischen Aufrüstung Colin Friendlys im Gerichtssaal und besuchte ihn so oft wie möglich im Gefängnis. Meine Mutter erweiterte ihre Beschwerdenliste: Wenn sie nicht gerade von fremden Männern verfolgt wurde, wurde sie zu nachtschlafender Zeit aus ihrem Bett getrommelt oder mit obszönen Anrufen belästigt; einige Frauen in ihrem Stockwerk hatten sich gegen sie verschworen und wollten sie aus dem Heim werfen lassen; sie bekam zu den Mahlzeiten kleinere Portionen als alle anderen Bewohner; Mrs. Winchell versuchte sie auszuhungern.
    Sie rief mich mindestens fünfzehnmal am Tag an, sowohl in der Praxis als auch zu Hause. Ihr Anruf war der erste, den ich morgens entgegennahm, und der letzte, der mich abends erreichte. Einmal schrie und schimpfte sie; zwei Minuten später war sie die gute Laune selbst. Oft weinte sie.
    Ich nahm es meinem Mann nicht übel, daß er mit meiner Mutter und meiner Schwester am liebsten nichts zu tun haben wollte. Sie waren schließlich nicht seine Familie. Seine eigenen Verwandten waren ruhige, angenehme Leute, die uns nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hatten. Seine Mutter, seit zehn Jahren Witwe, lebte in South Carolina, nicht weit von seinem älteren Bruder entfernt, und hatte einen sympathischen Witwer zum Nachbarn, mit dem sie seit fünf Jahren eng befreundet war. Wir besuchten einander von Zeit zu Zeit, und stets waren diese Zusammenkünfte nett und harmonisch. Nein, es waren einzig
meine Verwandten, die schon immer problematisch waren und zunehmend problematischer wurden. Wäre es mir möglich gewesen, ihnen zu entfliehen, ich hätte es getan. Hatte ich es nicht schon versucht?
    Es machte mir also wirklich nichts aus, daß Larry in jenen Wochen selten zu Hause war. Auf eine perverse Art war ich wahrscheinlich sogar froh darüber. Ein Mensch weniger, um den

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