Am Seidenen Faden
ihr.
Erst als ich hinter dem Steuer meines Wagens saß, hörten meine Knie auf zu zittern. Und erst als ich sie in ihrer Wohnung abgesetzt hatte, konnte ich wieder atmen.
»Du siehst ein bißchen erhitzt aus«, bemerkte Robert und hob die Hand, um meine Wange zu berühren. »Brütest du etwas aus?«
Die Berührung seiner Hand an meiner Wange war beinahe mehr, als ich ertragen konnte. Ich schloß die Augen und stellte mir vor, wir lägen an einem schimmernden weißen Strand, weit weg von Müttern und Töchtern und Ehemännern und Ehefrauen. Und Schwestern, fügte ich im stillen hinzu und zwang mich dann, die Augen wieder zu öffnen und in die Wirklichkeit der luxuriösen Büroräume im Herzen von Delray zurückzufinden. »Meine Mutter hält sich für Babe Ruth«, sagte ich.
»Wieso hab ich den Eindruck, daß da eine interessante Geschichte lauert?« fragte er augenzwinkernd.
»Weil du Presse bist«, erwiderte ich. »Für dich steckt hinter allem eine Story.«
»Kann sein«, sagte er, »aber nicht immer eine interessante. Wie kommt es, daß ich alles an dir so interessant finde?«
»Weil du mich seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hast«, antwortete ich trocken. »Weil du mich nicht sehr gut kennst.«
»Das würde ich gern ändern.«
Zum zweitenmal an diesem Morgen wurde mir das Atmen schwer. Ich sah mich in seinem Büro um, versuchte, ganz bewußt jede Menge belangloser Details wahrzunehmen: Die Wände waren blaßblau, der dicke Teppich silbergrau, auf dem wuchtigen Schreibtisch mit der schwarzen Marmorplatte nahm ein Computer mit großem Bildschirm einen Teil des Platzes ein. Vor dem Schreibtisch standen zwei Besuchersessel in graublauem Wildleder, auf der anderen Seite des rechteckigen Raums lud eine dazu passende Couchgarnitur den Besucher zum Sitzen ein. Wir befanden uns in der obersten Etage eines elfstöckigen Gebäudes; Fenster nach Osten, die vom Boden bis zur Decke reichten, gewährten einen überwältigenden Blick auf den Ozean hinaus. Es war die spektakuläre Aussicht, die an meiner plötzlichen Atemnot schuld war, wollte ich mir einreden und hätte beinahe laut gelacht über diesen erbärmlichen Versuch der Selbsttäuschung.
Eine Reihe gerahmter Fotografien stand auf dem halbhohen
Eichenschrank hinter Roberts Schreibtisch. Ich trat näher und betrachtete die glückliche Familie, die mich da anstrahlte: eine dunkelhaarige, zierliche Frau, hübsch, ohne schön zu sein, mit etwas geweiteten Augen, was entweder auf Überraschung hindeutete oder auf eine kosmetische Operation; vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, ihre Entwicklung von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter in einer Serie von Aufnahmen dokumentiert.
»Du hast wirklich eine nette Familie«, sagte ich, obwohl ich ohne Lesebrille Einzelheiten der Gesichter gar nicht erkennen konnte.
»Danke«, erwiderte er. »Hast du Bilder deiner Töchter da?«
Froh über die Ablenkung, kramte ich in meiner Tasche und sah sofort meine Mutter vor mir, wie sie in ihre Handtasche gegriffen und mir stolz ihre wunderbare Entdeckung gezeigt hatte. Ein Ei. Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Ein Ei war ja tatsächlich etwas Wunderbares.
»Woran denkst du?« hörte ich Robert fragen. Ich sah, wie die Fältchen an seinen Augenwinkeln sich kräuselten, als er lächelte.
»An Eier«, antwortete ich und beugte mich hastig wieder über meine Handtasche.
»An Eier«, wiederholte er kopfschüttelnd. »Du bist mir ein Rätsel, Kate Latimer.«
Ich lächelte. Genau das hatte ich immer sein wollen. »Kate Sinclair«, verbesserte ich leise, halb hoffend, er würde es nicht hören, und fand endlich das kleine rote Lederetui mit den Fotos von Sara und Michelle. »Die sind mindestens ein Jahr alt«, sagte ich, als ich es ihm reichte. »Michelle hat sich nicht groß verändert, nur daß sie jetzt noch schmaler ist.«
»Sie ist entzückend.«
Ich betrachtete die kleine Fotografie meiner jüngeren Tochter: Ein herzförmiges Gesicht und große, tiefblaue Augen; schulterlanges, hellbraunes Haar und ein kleiner Mund, der eine Spur traurig wirkte. Sara war die Auffallendere, Michelle die eher im konventionellen Sinne Hübsche.
»Und das hier?«
»Das ist Sara«, sagte ich. »Sie trägt ihr Haar jetzt anders. Es ist kürzer und blond.«
»Und dir gefällt das nicht?«
Ich steckte das rote Lederetui wieder in meine Tasche. War ich so leicht zu lesen? »Doch, der Schnitt gefällt mir«, entgegnete ich. »Die Farbe ist weniger mein
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