Am Seidenen Faden
ihre Hände.
»Was ist denn mit deinen Nägeln passiert?« fragte ich und starrte auf ihre dunkelroten Fingernägel.
Sie blickte auf ihre langen, von der Arthritis ein wenig knotigen Finger hinunter, dann zeigte sie sie mir stolz, wie verwundert über das, was sie sah. »Gefällt es dir? Die Verkäuferin bei Sak’s hat behauptet, dieser Lack wäre der letzte Schrei.«
Ich griff zu ihr hinüber und rieb über einen ihrer Fingernägel. Der sogenannte Lack färbte ab. »Das ist kein Nagellack«, sagte ich und fragte mich, was diese Verkäuferin ihr da angedreht hatte.
»Es ist kein Nagellack?«
»Nein, das ist Lippenstift.« Ich rieb über ihre anderen Finger. »Du hast dir die Nägel mit Lippenstift gemalt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie sehr bestimmt. »Du täuschst dich. Und jetzt hast du alles verschmiert«, sagte sie, hörbar den Tränen nahe.
»Aber Mama«, begann ich und brach ab. Schweigend und tief besorgt fuhr ich weiter. Mit meiner Mutter stimmte etwas nicht, das war klar. Aber am Wochenende, versicherte ich mir selbst hastig, war sie doch ganz in Ordnung gewesen. Vielleicht war das Wochenende einfach zuviel für sie gewesen. Ältere Menschen vertrugen es oft nicht mehr so gut, wenn ihr täglicher Rhythmus
gestört wurde. Aber war sie mit fünfundsiebzig wirklich so alt? Was ging mit ihr vor?
Wir sprachen nichts mehr, bis ich den Wagen auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums am Military Trail anhielt. Kaum hatte ich den Motor abgestellt, drehte sich meine Mutter mit erregt blitzenden Augen und nervös flatternden Händen zu mir. »Warte, bis du das siehst.« Sie griff in ihre Handtasche und holte etwas heraus, das sie vorsichtig in ihrer geschlossenen Hand hielt.
»Was ist es denn?« Ich hörte die Nervosität in meiner Stimme.
Meine Mutter lächelte stolz, öffnete dann langsam ihre Hand und enthüllte ein kleines weißes Ei. »Hast du so etwas schon mal gesehen?« fragte sie ehrfürchtig. Mir war, als legte sich eine Klammer um mein Herz. Sie sah sich nervös um, als hätte sie Angst, es könnte jemand draußen am Fenster stehen und sie beobachten. »Sie hatten einige davon heute morgen auf dem Frühstückstisch«, fuhr sie fort, »und ich konnte mich gar nicht an ihnen satt sehen. Als dann niemand herges chaut hat, habe ich heimlich eines in meine Handtasche gesteckt, um es dir zu zeigen. Sieh doch nur, wie vollkommen es geformt ist. Hast du so etwas schon mal gesehen?«
»Es ist ein Ei, Mama«, sagte ich behutsam, den Blick ungläubig auf ihre Hand gerichtet. »Weißt du das denn nicht?«
»Ein Ei?«
»Du ißt sie jeden Tag.«
Meine Mutter sah mich sekundenlang mit starrem Blick an. »Aber ja, natürlich«, sagte sie dann, ohne daß ihr Gesichtsausdruck sich veränderte. Sie steckte das Ei wieder in ihre Handtasche.
»Mama«, begann ich, ohne recht zu wissen, was ich sagen sollte, unfähig, das schreckliche Schweigen auszuhalten.
»Du siehst aber wirklich hübsch aus!« rief sie, als sähe sie mich zum erstenmal. »Ist das Kleid neu? Sehr schick, nur um darin einkaufen zu gehen.«
Ich strich mit automatischer Bewegung über die Falten meines neu gekauften rotweißen Kleides. »Ich habe eine Verabredung
zum Mittagessen«, erinnerte ich sie. »Ich soll vielleicht eine Radiosendung bekommen. Erinnerst du dich, ich hab dir davon erzählt.«
»Natürlich erinnere ich mich«, erwiderte sie. »Hast du Michelles Wunschzettel dabei?«
Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich wohl erkennen müssen, daß meine Mutter ernstlich krank war. In der Rückschau scheint es mir unglaublich, daß ich die deutlichen Anzeichen der Alzheimerschen Krankheit nicht erkannte. Wäre sie die Mutter eines meiner Klienten gewesen, so hätte ich das zweifellos viel früher gesehen oder zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen, aber sie war ja meine Mutter, und sie war erst fünfundsiebzig Jahre alt. Außerdem benahm sie sich gewöhnlich ganz normal. Gewöhnlich stahl sie keine Eier vom Frühstückstisch und malte ihre Fingernägel nicht mit Lippenstift an. Gewöhnlich beschuldigte sie ihre Nachbarn nicht, sich gegen sie verschworen zu haben. Gewöhnlich backte sie nicht mit Geschirrspülmittel. Gewöhnlich war sie ganz in Ordnung, ein wenig vergeßlich vielleicht, aber sind wir das nicht alle? An die meisten Dinge erinnerte sie sich. Und war sie nicht das ganze Wochenende lang in Ordnung gewesen? Hatte sie nicht soeben Michelles Wunschzettel erwähnt?
»Den hab ich hier«, sagte ich und
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