Am Seidenen Faden
jungverheiratet, Ende Zwanzig, die um fünf zu ihrer Sitzung bei mir gekommen waren, blickten mich gespannt an, offensichtlich in der Erwartung, tiefe Weisheiten aus meinem Mund zu hören. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich keine Ahnung hatte, worüber wir gesprochen hatten, und im stillen verwünschte ich Jo Lynn, der ich die Schuld an meiner Zerstreutheit gab. Augenblicklich sah ich mich wieder im Gerichtssaal, erlebte wieder den Moment, als der des Serienmordes angeklagte Colin Friendly in aller Öffentlichkeit seine
Liebe zu meiner Schwester erklärt hatte. Was hatte Colin Friendly mit dieser Einlage beweisen wollen? Was hatte er dadurch gewinnen wollen? Teilnahme? Unterstützung? Was?
»Was?« fragte ich wieder, während Ellie und Richard Lifeson beunruhigte Blicke tauschten. »Entschuldigen Sie, aber könnten Sie noch einmal wiederholen, was Sie eben gesagt haben?«
»Sie schreibt mir ständig vor, was ich zu tun habe, und ich habe allmählich die Nase voll davon«, wiederholte Richard Lifeson.
»Das ist gar nicht wahr«, protestierte seine Frau.
Sie waren zwei sympathisch aussehende junge Leute mit frischen, offenen Gesichtern. Sie waren seit drei Jahren verheiratet; es war für beide die erste Ehe; sie hatten keine Kinder; sie dachten an Scheidung. Ich warf einen Blick in meine Notizen, um mir die Besonderheiten ihrer Situation zu vergegenwärtigen, dann auf meine Uhr, um festzustellen, wieviel von der Sitzung ich bereits verpaßt hatte.
»Von wegen!« rief Richard Lifeson. »Erzähl ihr doch mal, was los war, bevor wir hier ankamen.«
»Warum erzählen nicht Sie es mir«, schlug ich vor. Ich konzentrierte mich auf seine breite Stirn, sein kantiges Kinn, um jeden Gedanken an Colin Friendly auszublenden.
»Ich wollte einen Beutel Chips kaufen«, begann er, »und sofort sagt sie zu mir, ich soll die neuen fettarmen nehmen. Ich mag aber die fettarmen Chips nicht, die haben überhaupt keinen Geschmack, und ich verstehe nicht, warum sie sich überhaupt einmischt, sie mag sowieso keine Chips. Aber was hab ich gekauft? Raten Sie mal.«
»Ich habe nie gesagt, daß du sie kaufen mußt. Ich hab nur einen Vorschlag gemacht.«
»Du machst nie Vorschläge. Du erläßt königliche Befehle.«
»Da haben Sie’s. Jetzt macht er mich schon wieder runter. Immer macht er mich runter. Ich kann nicht ein einziges Wort sagen, ohne daß er mir über den Mund fährt.«
»Ach ja?« fragte Richard Lifeson. »Wann fahr ich dir denn über den Mund?«
»Denk mal an gestern abend, als wir in der Ballettaufführung waren, wo meine Nichte mitgetanzt hat«, antwortete Ellie Lifeson, ehe ich mich einschalten konnte. »Hinterher hat er mich gefragt, welcher Tanz mir am besten gefallen hätte, und ich hab gesagt, der mit den Schwänen. Und was sagt er darauf: ›Das zeigt, wie wenig du von Ballett verstehst.‹ Natürlich gab’s einen Riesenstreit, wir sind beide wütend zu Bett gegangen und haben natürlich nicht miteinander geschlafen. Wieder mal nicht«, fügte sie spitz hinzu.
»Willst du mir jetzt auch noch befehlen, mit dir zu schlafen?« fragte Richard Lifeson erregt.
»Okay, Moment, Moment«, sagte ich ruhig. »Wir haben es hier mit mehreren unterschiedlichen Fragen zu tun. Versuchen wir doch mal, eine nach der anderen genauer zu betrachten. Nehmen wir erst einmal die Sache mit den Kartoffelchips: Ellie, Sie sehen sich als hilfsbereit; Richard, Sie sehen Ihre Frau als diktatorisch. Das ist ein Geschlechterstreit. Frauen meinen, Vorschläge zu machen. Männer verstehen sie als Befehle.«
»Darf ich jetzt keine Vorschläge mehr machen?«
»Ich weiß, es wird nicht leicht werden, Ellie, aber Sie sollten wirklich versuchen, sich in dieser Richtung etwas zu bremsen. Und Sie, Richard, müssen lernen, Ihren Standpunkt zu vertreten. Wenn Sie keine fettarmen Kartoffelchips mögen, dann müssen Sie das sagen.«
»Damit es dann wieder einen Riesenstreit gibt?«
»Streit gibt es sowieso«, erwiderte ich. »Vielleicht nicht wegen der Kartoffelchips, aber diese ganze unterdrückte Wut wird irgendwo herauskommen.«
»Sie ist doch diejenige, die ständig wütend ist.«
»Ja, weil du mich immer runtermachst.«
»Versuchen Sie, Wörter wie ›immer‹ und ›nie‹ zu vermeiden. Sie tragen nicht zu einer Lösung des Problems bei und heizen nur die Atmosphäre auf. Und Ellie, denken Sie daran, daß niemand Sie heruntermachen kann, wenn Sie es nicht zulassen. Lassen Sie mich versuchen, Ihnen zu zeigen, wie das Gespräch nach
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