Am Seidenen Faden
richtig, voll auf den Mund, und ich erwiderte seine Küsse mit einer Leidenschaft, die mich völlig überraschte. Plötzlich war ich wieder die Schülerin von damals und er der angehende Student, und unser Leben fing gerade erst an, und die Welt war heil und in Ordnung.
Nur stimmte das eben nicht. Wir waren nicht mehr in der Schule, wir hatten unser Leben zur Hälfte hinter uns, und meine Welt war dabei, aus den Fugen zu geraten.
»Das ist das letzte, was ich brauche«, sagte ich zu Robert und befreite mich aus seiner Umarmung.
Aber noch in dem Moment, als ich meine Fassung wiedergewann und aus dem Raum ging, vorbei an den Reportern, die sich im Korridor drängten und lärmend meine Schwester umringten, wußte ich, daß es zu spät war, daß meine Welt ihre alte Ordnung nie wiedergewinnen würde.
16
Ich versuchte, mich in meine Arbeit zu vergraben. Leicht war es nicht. Wo immer ich hinsah, überall begegnete ich meiner Schwester und ihrem »Verlobten«, wie sie ihn im Fernsehen und vor der Presse zu bezeichnen pflegte. Quälend starrten mich ihre Bilder von den Titelseiten sämtlicher Zeitungen und Boulevardblätter in der Stadt an; Jo Lynn gab mehrere Interviews und trat zweimal in der Sendung Inside Edition auf, wobei sie es zum Glück unterließ zu erwähnen, daß sie eine Schwester hatte. Daß wir anders lautende Nachnamen hatten – sie hatte den Namen ihres zweiten Mannes beibehalten, weil sie fand, er passe gut zu Jo Lynn -, stellte niemand eine Verbindung zwischen uns her. Da wir noch nie in denselben Kreisen verkehrt hatten, war ihre traurige Berühmtheit für mich weder in gesellschaftlicher noch in beruflicher Hinsicht ein Problem. Dennoch war mir die ganze Sache unglaublich peinlich – ich würde gern glauben, mehr um ihret- als um meinetwillen, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht -, und ich machte mir ernste Sorgen um den Geisteszustand und das Wohlbefinden meiner Schwester.
Sara fand die Situation natürlich »cool«; Larry ignorierte wie üblich die ganze Sache; Michelle fragte nur: »Tickt die eigentlich noch richtig?« Was meine Mutter anging, so schien sie von dem ganzen Wirbel um ihre jüngere Tochter nichts zu bemerken. Niemals machte sie auch nur die geringste Bemerkung über die vielen Artikel in den Zeitungen oder die Interviews im Fernsehen. Als ich sie fragte, ob sie Jo Lynns Bild auf der Titelseite der Palm Beach Post gesehen habe, sagte sie nur, ich solle ihr die Zeitung aufheben, und erwähnte dann nie wieder etwas davon. Dafür rief Mrs. Winchell an, um mir ihre Sorgen mitzuteilen, wobei ihre größte Angst war, daß all die Publicity unerfreuliche Auswirkungen auf den Ruf des Palm Beach Lakes Seniorenheims haben könnte, wenn bekannt werden sollte, daß Jo Lynns Mutter dort lebte. Vielleicht, meinte sie, könnten wir überlegen, ihr eine andere
Unterkunft zu suchen. Sie hätte sich keine Sorgen machen müssen. Jo Lynn zeigte keinerlei Neigung, das Rampenlicht zu teilen.
Robert rief beinahe täglich an, aber ich hatte Angst, seine Anrufe zu erwidern. Mein Leben war auch ohne die Komplikationen einer außerehelichen Affäre schon chaotisch genug. Er erwähnte allerdings in keinem seiner Anrufe, was zwischen uns vorgefallen war. Er fragte nur, ob ich schon ein Konzept hätte, was die geplante Sendung betraf, und verlor kein Wort über den Kuß, der mit der Sendung entschieden nichts zu tun gehabt hatte. Tatsächlich hatte ich eine Idee für die Sendung, die ich recht gut fand, aber meine Furcht vor Robert und den Medien war mittlerweile so groß geworden, daß ich nicht mehr sicher war, ob ich mit dem einen oder dem anderen überhaupt noch etwas zu tun haben wollte. Außerdem würde, wenn ich wirklich eine eigene Sendung bekam, garantiert irgendwann irgendein ehrgeiziger Reporter die Verbindung zwischen mir und meiner Schwester entdecken. Ja, Jo Lynn würde wahrscheinlich meine erste Anruferin sein.
»Meine Schwester kritisiert dauernd an mir herum«, konnte ich sie schon jetzt sagen hören. »Ob es sich um meine Garderobe handelt oder um die Männer, in die ich mich verliebe, immer hat sie etwas auszusetzen. Sie hält mich für unfähig, eine reife Entscheidung zu treffen. Nur weil sie Therapeutin ist, bildet sie sich ein, alles zu wissen. Ständig schreibt sie mir vor, was ich tun soll, und ich habe allmählich die Nase voll davon. Was raten Sie mir?«
»Oh, entschuldigen Sie, was sagten Sie eben?« Es war fast sechs Uhr abends, Elli und Richard Lifeson,
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