Am Sonntag stirbt Alison
Mascara-umrandeten Augen ins Leere. »Kann ich den Ausdruck noch mal sehen?«, fragte sie.
»Chalchiu Totolin«, murmelte sie nachdenklich, nachdem Lys ihr das Papier gereicht hatte. »Das sagt mir was.«
»Es gab da wohl vor einiger Zeit einen Hacker, der…«
»Ach ja, klar, die Sache mit dem Justizministerium.« Sibel machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann starrte sie wieder auf das Blatt. »Hm…«
»Denkst du, dass es dieser Hacker sein könnte, der die Drohung ins Netz gestellt hat?«, fragte Lys aufgeregt.
»Das hier«, Sibel tippte mit einem ihrer perfekt manikürten Fingernägel auf den Ausdruck, »eine Drohung zu nennen, ist ziemlich überinterpretiert. Und was den Namen betrifft – ich wette, dass mittlerweile so einige Leute unter ›Chalchiu Totolin‹ durchs Netz geistern, einfach weil sie diesen Hacker so obercool finden. Ich meine, der Kerl ist ein Genie! Angeblich hat er sich sogar ins Pentagon gehackt! Außerdem – falls tatsächlich genau dieser Hacker dahintersteckt, kannst du die Sache sowieso vergessen. Wenn das Bundeskriminalamt ihn nicht gefunden hat, werden wir es wohl auch kaum schaffen.«
»Wir? Das heißt, du hilfst mir?«
Sibel zog eine Schnute, doch Lys sah an ihrem konzentrierten Blick, dass ihr Interesse geweckt war. »Und was, wenn es doch ein Virus ist?«, maulte Sibel, offenbar in einem letzten Versuch, sich aus der Sache herauszuwinden. »Der mir meine Programme ruiniert?«
»Wir könnten zu mir gehen. Oh bitte, Sibel! Ich brauche deine Hilfe!«
»Weißt du, was mein Problem ist, Lys?«, knurrte Sibel. »Mein Problem ist, ich habe ein zu weiches Herz. Ein viel zu weiches Herz.«
***
Die Wohnung der Thielers war wie immer dunkel und kalt, als sie wenige Minuten später durch die Tür traten. Sibel kickte ihre Stiefel mit einer schwungvollen Bewegung ins Schuhregal. »Mann, hier riecht’s wie im Museum. Wird hier ab und zu mal gelüftet?«
Lys zuckte mit den Schultern. »Ich denke nicht immer dran«, murmelte sie.
»Es gibt wohl eine Menge, woran du zurzeit nicht denkst«, stellte Sibel fest, während sie sich in den Drehstuhl vor dem Computer fallen ließ. »Wo ist denn dein Dad?«
»In Wien. Bei einem Geschäftsmeeting.«
»Und er lässt dich hier ganz allein?«, fragte Sibel skeptisch.
Lys verdrehte die Augen und klickte den Bildschirmschoner weg. »Hier«, sagte sie.
Sibel warf ihr einen mürrischen Blick zu. »Weißt du, dass in Deutschland zwei Atomkraftwerke laufen, nur weil die Leute ihre Geräte ständig im Stand-by-Modus lassen?« Dann wandte sie ihre Augen dem Bildschirm zu, der immer noch die Ergebnisse des letzten Suchvorgangs zeigte.
»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Lys nachdenklich.
»Aus wem?«
»Na, Chalchiu Totolin. Dem Hacker.«
»Keine Ahnung.« Sibel zuckte mit den Schultern. »Seit gut einem Jahr ist nichts mehr über ihn in den Nachrichten gekommen. Wahrscheinlich ist ihm die Sache dann doch irgendwann zu heiß geworden und er hat aufgehört, Regierungsstellen zu nerven. Oder die Amis haben ihn geschnappt und nach Guantánamo verschickt.«
»Ich hab da noch was gefunden«, sagte Lys vorsichtig. Sie ahnte bereits, wie Sibel reagieren würde, wenn sie ihr davon erzählte. »Es gibt noch eine andere Bedeutung von Chalchiu Totolin. Und ich habe eine Website gefunden, auf der eine Alison in direkter Verbindung dazu steht.«
»Was?«, fragte Sibel erstaunt.
»Schau mal.« Lys klickte den Internetauftritt der Max-Beller-Schule an.
»Eine Theatergruppe?«, fragte Sibel erstaunt.
»Hm.«
»Und du meinst, da besteht ein Zusammenhang?« Sibel lachte auf.
»Lys, das muss Zufall sein.«
»Alison von mir aus. Aber Chalchiu Totolin? Beides zusammen auf einer Website?«
»Jetzt denk doch mal logisch nach! Einen Moment nur! Es ist Zufall, weiter nichts!« Sibel brach ab. »Wobei… hey!« Sie fuhr herum, ihre Augen strahlten.
»Was?«
»Das ist die Lösung! Das ist es! Eine Theatergruppe! Lys, dieser Eintrag, dieses ›Am Sonntag stirbt Alison‹, das ist einfach so eine verrückte Performancegeschichte. Oder… oder eine Werbeaktion! Wetten, diese Theatergruppe gibt demnächst irgend so ein merkwürdiges modernes Stück und Alison McKinley spielt die todgeweihte Heldin? Und deshalb haben sie ›Am Sonntag stirbt Alison‹ ins Netz gestellt, um auf das Stück aufmerksam zu machen?«
»Das kann nicht sein«, sagte Lys kopfschüttelnd.
»Ach. Und warum nicht?«, fragte Sibel ungnädig.
»Hast du mal auf das Datum geschaut? Dieser
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