Am Strand des Todes
Städtchen.
Seine Stadt. Dieses Eigentumsgefühl war im Lauf der Jahre
immer stärker geworden, ohne daß er sich dessen bewußt
wurde. Da lag sie vor ihm, seine Stadt, ein Bild heiteren
Friedens unter der strahlenden Morgensonne.
Er hielt vor dem winzigen Rathaus und schlenderte in sein
Büro. Chip Connor war bereits da und wartete mit
dampfendem Kaffee. Er goß seinem Boß eine Tasse ein.
»Also – sie sind weg«, sagte Harney.
»Weg? Wer?«
»Die Randalls. Sind eben weggefahren.«
»Aber sie werden zurückkommen«, wandte Chip ein.
»Vielleicht«, meinte Harney verkniffen, »vielleicht aber
auch nicht.« Er setzte sich und legte die Füße auf den
Schreibtisch. »Wundervoller Tag heute, nicht wahr, Chip?«
»Bis jetzt noch, aber ein Sturm braut sich zusammen«,
erwiderte sein Stellvertreter, »und kein geringer.«
»Ich weiß«, meinte Whalen, »ich spür’s in meinen
Knochen.« Harney Whalen lächelte vor sich hin und nippte an
seiner Tasse. Sollte er ruhig kommen, dieser Sturm.
BUCH II
Nachtwogen
12
Pfarrer Lucas Pembroke blickte über den Rand seiner
Halbbrille auf die Handvoll Menschen, die sich in der winzigen
Methodistenkirche versammelt hatten, und versuchte den
schlechten Besuch dem Wetter zuzuschreiben. Während der
vergangenen fünf Tage, seit Miriam und Pete Shelling
begraben worden waren, hatte es fast ständig geregnet. Nur die
Gelangweilten und die Neugierigen waren zugegen gewesen,
und Pembroke hatte gehofft, daß zu diesem Gedenkgottesdienst
einige mehr kommen würden. Was hatte es für einen Sinn, den
ganzen Weg von Hoquiam hierher zu fahren, um über zwei
Menschen zu reden, die er kaum kannte, wenn sich nur diese
paar Nachbarn und Einwohner hier für sie interessierten?
Vielleicht wären mehr gekommen, wenn man die Leichen
aufgebahrt hätte… Er schämte sich seiner unchristlichen
Gedanken.
Im übrigen wußte er, daß es nicht nur am Wetter lag. Es war
noch etwas anderes, etwas, das er am eigenen Leib gespürt
hatte, seit er damals Clark’s Harbor unter seine Fittiche
genommen hatte. Seine neue Gemeinde war ihm von Anfang
an mit ungewohnter Distanz begegnet, und es war ihm in den
ganzen Jahren nicht gelungen, sie abzubauen. Sie wollten wohl
einen Pfarrer für ihre Kirche, doch einer von draußen wurde
bei ihnen nie ganz akzeptiert. Eigentlich hatte Lucas Pembroke
gehofft, das Eis doch noch irgendwie brechen zu können, doch
der Tod von Pete und Miriam Shelling warf ihn wieder weit
zurück. Sie waren die einzigen gewesen, die ihm immer wieder
zu verstehen gegeben hatten, daß sie seine Arbeit hier in
Clark’s Harbor zu schätzen wußten. Aber vielleicht lag das
auch nur daran, daß sie hier ebenfalls nicht so sehr
willkommen waren. Das Schicksal der Shellings hatte ihn sehr
betroffen gemacht, und er wollte ihnen unbedingt einen
würdigen Abschied bereiten. Aber diese Gefühle schienen in
Clark’s Harbor nicht von vielen geteilt zu werden.
Natürlich war Merle Glind anwesend. Pembroke wußte
jedoch genau, daß dies nicht seinem Mitgefühl für die Toten,
sondern seiner unersättlichen Neugier zuzuschreiben war. Er
saß in der vierten Reihe, auf halbem Weg zwischen Kanzel und
Tür, und sein kleiner, fast kahler Kopf drehte sich nach allen
Seiten, um die Anwesenden zu registrieren.
Außer Glind sah man noch drei Fischer und Harney Whalen
als Vertreter der Alteingesessenen der Stadt. In der ersten
Reihe, ganz an die Seite gedrückt, fielen Pembroke Rebecca
und Glen Palmer mit ihren beiden Kindern auf. Sie hatte er
noch nie in seiner Kirche gesehen. Er wunderte sich, was sie
ausgerechnet heute hierher verschlagen hatte; irgendwie
wirkten sie fehl am Platze.
Der Pfarrer warf einen Blick auf die Uhr über der
Eingangstür. Es würde wohl niemand mehr kommen, also
konnte er sich genausogut erheben und den Gottesdienst
beginnen.
Eine Stunde später traten die wenigen Besucher aus der Kirche,
an ihrer Spitze Harney Whalen. Pembroke bemerkte, daß es der
Polizeichef recht eilig zu haben schien. Er hatte nicht einmal
Zeit für einen Händedruck gefunden. Merle Glind dagegen
schüttelte ihm übertrieben die Hand, bevor er sich mit Pflichten
in seinem Gasthaus entschuldigte. Gleich darauf stand Rebecca
Palmer vor ihm.
»Ein sehr ergreifender Gottesdienst, Herr Pfarrer«, sagte sie
schüchtern.
»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, erwiderte
Pembroke voller Wärme. »Es waren leider nicht viele, und es
schmerzt mich immer, wenn die Leute sich um den Tod
anderer nicht kümmern;
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