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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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wurden. Hartgewordene Pinsel standen auf Stühlen und Fensterbrettern in offenen Kleisterdosen herum.
    Zu Marjories Hobbys gehörten außerdem Strik-ken, Sticken, Blumenstecken und Vögelbeobachten vom Wohnzimmerfenster aus, Interessen, denen sie sich stets mit der gleichen entrückten, chaotischen
    Intensität widmete. Meist war sie dabei still, nur manchmal, wenn sie etwas Schwieriges versuchte, hörte man sie vor sich hin murmeln: »Nun ... nun ... nun.«
    Edward kam nie auf die Idee, sich zu fragen, ob sie glücklich war. Natürlich hatte sie ihre Aktivitätsschübe, befielen sie Panikattacken, in denen ihr Atem stoßweise ging, die dünnen Arme aufgeregt flatterten und ihre ganze Aufmerksamkeit sich plötzlich auf die Kinder richtete, auf eine besondere Not, um die sie sich sofort kümmern zu müssen glaubte. Edwards Fingernägel waren zu lang, sie mußte einen Riß im Kittel stopfen, die Zwillinge brauchten ein Bad. Dann kam sie herbeigestürzt, bemutterte sie sinnlos, beschimpfte oder umarmte sie, küßte ihnen die Gesichter ab oder tat alles zugleich, als wollte sie verlorene Zeit wieder wettmachen. Fast fühlte es sich wie Liebe an, und die Kinder ließen es glücklich über sich ergehen, doch wußten sie aus Erfahrung, daß sich ihrer Mutter stets unüberwindbare Hürden in den Weg stellten -weder Nagelschere noch passender Faden konnte gefunden werden, und Wasser für die Badewanne heiß zu machen brauchte stundenlange Vorbereitung. Und bald driftete Marjorie wieder ab, zurück in ihre eigene Welt.
    Vermutlich wurden diese Anfälle von einem Rest ihrer früheren Persönlichkeit hervorgerufen, der ahnte, in welcher Verfassung sie sich befand, da er sich undeutlich an die Frau von früher erinnerte und die Kontrolle wiederzuerlangen versuchte, bis ihm mit jähem Entsetzen das wahre Ausmaß des Verlustes dämmerte. Doch die meiste Zeit wiegte sich Marjorie in der Vorstellung, einem sorgsam ausgeschmückten Märchen, daß sie eine hingebungsvolle Frau und Mutter sei und der Haushalt dank ihrer Mühen wie am Schnürchen laufe, weshalb sie, nach getaner Arbeit, ein bißchen Zeit für sich verdient habe. Und um ihre schlimmen Zustände auf ein Minimum zu reduzieren und den Bodensatz ihres einstigen Bewußtseins nicht zu alarmieren, halfen Lionel und die Kinder, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Zu Beginn der Mahlzeiten betrachtete Marjorie das Ergebnis der Mühen ihres Mannes, hob dann den Blick, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte liebevoll: »Ich hoffe, es schmeckt euch. Ich wollte mal etwas Neues ausprobieren.«
    Es gab nie etwas Neues, denn Lionels Repertoire war begrenzt, doch widersprach man nicht, und artig bedankten sich Vater und Kinder bei ihr nach jeder Mahlzeit. Es war eine Scheinwelt, die sie alle tröstlich fanden. Wenn Marjorie verkündete, sie stelle eine Einkaufsliste für den Markt in Watling-ton zusammen oder sie habe mehr Laken zu bügeln, als sie auch nur zählen könne, schien eine Parallelexistenz freundlicher Normalität in Reichweite der ganzen Familie aufzuleuchten. Dieses Phantasiereich hatte allerdings nur Bestand, solange niemand daran rührte. Sie wuchsen darin auf und lebten mit den Absurditäten, als wären sie normal.
    Irgendwie schirmten sie ihre Mutter vor den Freunden ab, die sie mit nach Hause brachten, ebenso wie sie die Freunde vor ihrer Mutter abschirmten. In der Nachbarschaft war man allgemein der Ansicht - zumindest kam ihnen nichts anderes zu Ohren -, Mrs. Mayhew sei eine künstlerische, exzentrische und charmante Person, vermutlich ein Genie. Die Kinder fanden es auch gar nicht peinlich, ihre Mutter Sachen sagen zu hören, die offenkundig nicht stimmten. Sie hatte keinen anstrengenden Tag vor sich und hatte auch nicht den ganzen Nachmittag Brombeermarmelade eingemacht. Schließlich handelte es sich dabei nicht um Unwahrheiten, sondern um das eigentliche Wesen ihrer Mutter, und die Kinder hatten entschieden, sie zu schützen - stillschweigend.
    Es war daher ein denkwürdiger Moment, als der vierzehnjährige Edward allein mit seinem Vater im Garten stand und zum ersten Mal hörte, daß seine Mutter hirngeschädigt war. Schon das Wort war eine Beleidigung, die blasphemische Aufforderung, seine Solidarität mit ihr aufzugeben. Hirngeschädigt. Nicht ganz richtig im Kopf. Hätte jemand anderes derartiges über seine Mutter gesagt, wäre Edward sofort über ihn hergefallen. Doch noch während er auf diese Verleumdung mit feindseligem Schweigen reagierte, spürte

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