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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ziemlich halbherzig. Gefegt wurde nur, wo der Boden nicht mit irgendwelchem Plunder zugestellt war, und bloß die für den nächsten Tag benötigten Sachen - vor allem die Kleider und Bücher - wurden gereinigt oder bereitgelegt. Die Betten blieben ungemacht, die Laken wurden selten gewechselt, das Waschbecken im engen, eisigen Bad wurde nie geputzt - man konnte seinen Namen mit dem Fingernagel in den harten, grauen Belag einritzen. Es war schon mühselig genug, sich um das Nötigste zu kümmern - Kohle für den Küchenherd zu holen, im Winter den Kamin im Wohnzimmer nicht ausgehen zu lassen, die Kleider für die Kinder halbwegs sauberzuhalten. Wäsche wurde am Sonntagnachmittag gewaschen, und dazu mußte der Kupferkessel auf den Herd gehievt werden. An Regentagen wurden die nassen Kleider im ganzen Haus zum Trocknen über die Möbel gehängt. Bügeln überstieg Lionels Fähigkeiten - alles wurde mit der Hand geglättet und zusammengefaltet. Es gab Zeiten, in denen eine der Nachbarinnen mit anpackte, doch blieben die Frauen nie lang. Das Ausmaß der Arbeit, die auf sie wartete, war einfach zu groß; außerdem mußten sie sich um ihre eigenen Familien kümmern.
    Mitten im Chaos aßen die Mayhews in der Küche an einem ausklappbaren Kieferntisch zu Abend. Der Abwasch wurde stets auf später verschoben. Nachdem alle Marjorie für das Essen gedankt hatten, ging sie ihrer Wege, während die Kinder abräumten und dann am Tisch ihre Aufgaben machten. Lionel zog sich ins Arbeitszimmer zurück, korrigierte Hefte, erledigte Schreibkram, hörte Nachrichten am Radio und rauchte dabei eine Pfeife. Etwa anderthalb Stunden später kam er dann wieder, um die Hausaufgaben zu kontrollieren und die Kinder ins Bett zu stecken. Er las ihnen jeden Abend etwas vor, für Edward andere Geschichten als für die Mädchen. Und oft schliefen sie schon ein, während er unten noch das Geschirr abwusch.
    Er war ein sanftmütiger Mann mit milchblauen Augen, sandfarbenem Haar, soldatisch kurz gestutztem Schnurrbart und der kräftigen Gestalt eines Feldarbeiters. Um einberufen zu werden, war er zu alt - schon achtunddreißig bei Edwards Geburt. Lionel ohrfeigte seine Kinder nicht, schlug sie auch nicht wie die meisten Väter mit dem Riemen und wurde überhaupt nur selten laut. Er ging schlicht davon aus, daß man ihm gehorchte, und die Kinder fügten sich, vielleicht weil sie spürten, welche Verantwortung auf ihm ruhte. Trotz alledem hielten sie die Umstände für selbstverständlich, in denen sie aufwuchsen, obwohl sie oft genug woanders zu Besuch waren - in den penibel aufgeräumten Welten der freundlichen, Schürzen tragenden Mütter ihrer Freunde. Edward, Anne und Harriet bekamen nie den Eindruck, daß sie es nicht so gut wie andere hatten; Lionel litt allein unter dieser Last.
    Da Edward sich nicht an die Zeit um seinen fünften Geburtstag erinnerte, in der seine Mutter sich so plötzlich verändert hatte, begann er erst ungefähr im Alter von vierzehn Jahren zu ahnen, daß mit seiner Mutter etwas nicht stimmte. Wie seine Schwestern wuchs er mit Marjories Geistesgestörtheit als einer Tatsache auf, die nicht weiter erwähnenswert schien. Seine Mutter war ein geisterhaftes Wesen, eine ausgemergelte, aber herzensgute Feengestalt mit wirrem braunem Haar, die durch das Haus wie durch ihre Kindheit spukte, mal mitteilsam und zärtlich, dann wieder entrückt und geistesabwesend. Man konnte sie zu jeder Tageszeit und manchmal auch mitten in der Nacht einfache Stücke auf dem Klavier vor sich hin klimpern hören, wobei sie immer an denselben Stellen ins Stocken geriet. Oft hielt sie sich auch im Garten auf, um in dem randlosen Beet herumzustochern, das sie mitten auf dem schmalen Rasen angelegt hatte. Ihre Malerei - am liebsten fertigte sie Aquarelle an: ferne Hügel und Kirchtürme, umrahmt von Bäumen im Vordergrund - trug nicht wenig zur allgemeinen Unordnung bei. Die Pinsel wurden nie ausgewaschen, das grünliche Wasser aus den Marmeladengläsern nicht weggekippt, sie räumte keine Farben und Lumpen fort und sammelte auch ihre diversen Entwürfe nicht wieder ein - kein Bild wurde jemals fertig. Tagelang trug sie ihren Kittel, auch wenn die Lust zu malen schon längst wieder verflogen war. Wohl seit einer früheren Beschäftigungstherapie schnitt sie gern Bilder aus Zeitschriften aus und klebte sie in ihre Sammelalben, lief dabei aber meist durch das ganze Haus und ließ überall Papierschnipsel fallen, die in den Schmutz der nackten Dielen getreten

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