Am Strand
verspürte und ebenso schmerzhaft wie köstlich fand, noch von irgend jemand anderem geteilt werden könnte.
Ohne seinen Vater zu fragen oder ihm etwas zu sagen, trampte er an einem Wochenende während der Suezkrise nach London, um auf dem Trafalgar Square an einer Demonstration teilzunehmen. In einem Augenblick überschwenglicher Begeisterung entschied er noch am selben Tag, daß er nicht nach Oxford gehen würde, wie Lionel und all seine Lehrer es von ihm erwarteten. Die Stadt am Cherwell war ihm zu vertraut und unterschied sich gar nicht so sehr von Henley. Er wollte hierherkommen, wo ihm die Menschen beeindruckender, lauter und unberechenbarer vorkamen und die Straßen ihre Berühmtheit mit einem Achselzucken abzutun schienen. Er verschwieg sein Vorhaben, weil er nicht zu früh Widerspruch wecken wollte. Außerdem hatte er vor, sich um die Armee zu drücken, die, wie Lionel gern behauptete, ihm sicher guttun würde. Diese geheimen Pläne verstärkten noch das Gefühl, einen verborgenen Persönlichkeitskern zu haben, ein untrennbares Ineinander von Empfindlichkeiten, Sehnsüchten und kompromißlosem Egoismus. Anders als manche Jungen an der Schule schimpfte er nicht über sein Zuhause und seine Familie. Er fand die kleinen Zimmer und die Unordnung normal, und er schämte sich auch nicht für seine Mutter. Er wartete bloß voller Ungeduld darauf, daß sein eigentliches Leben, seine wahre Geschichte endlich begann, und so, wie die Dinge nun einmal lagen, würde es dazu erst kommen, wenn er sein Examen bestanden hatte. Also lernte er fleißig und schrieb gute Aufsätze, insbesondere für seinen Geschichtslehrer. Zu seinen Schwestern und Eltern blieb er freundlich, aber er hörte nicht auf, von jenem Tag zu träumen, an dem er sein Elternhaus endlich verlassen konnte, dem er eigentlich doch längst entwachsen war.
Drei
Im Schlafzimmer ließ Florence Edwards Hand los, hielt sich an einer der Baldachinsäulen aus Eiche fest und beugte sich nach rechts, dann nach links, um ihre Schuhe auszuziehen, wobei sie jedesmal anmutig eine Schulter neigte. Sie hatte die teuren Schuhe an einem verregneten Nachmittag bei Debenhams gekauft und sich dabei mit ihrer Mutter gestritten, da Violet es ungewohnt und strapaziös fand, ein Geschäft zu betreten. Die Schuhe, vorn mit einer winzigen, kunstvoll aus dunklerem Leder geflochtenen Schleife versehen, hatten flache Absätze und waren aus weichem, blaßblauem Leder. Die Braut ließ sich Zeit - noch eine ihrer Verzögerungstaktiken, durch die sie die Erwartung nur steigerte. Der verzückte Blick ihres Gatten war ihr nicht entgangen, aber im Augenblick fühlte sie sich nicht allzusehr bedrängt und auch nicht zu nervös. Der Schritt ins Schlafzimmer hatte sie in einen Zustand alptraumhafter Beklemmung versetzt, der wie ein altmodischer Taucheranzug jede Bewegung lähmte. Ihre Gedanken schienen nicht mehr ihr selbst zu gehören; es war, als pumpte man sie zu ihr hinab, Gedanken statt Sauerstoff.
Und in ebendiesem Zustand erklang in ihrem Kopf eine feierliche, schlichte Tonfolge, die sich wie ein Ohrwurm undeutlich und seltsam verschwommen ständig wiederholte und sie sogar bis ans Bett verfolgte, wo sie die Töne noch einmal zu hören meinte, während sie die Schuhe in den Händen hielt. Die vertraute Phrase, manch einer hätte sie sogar berühmt genannt, setzte sich aus vier aufsteigenden Noten zusammen, die eine zögerliche Frage zu stellen schienen. Da das Instrument aber ein Cello und nicht ihre Geige war, stammten die Töne wohl auch nicht von ihr, sondern von einem unbeteiligten Beobachter, sie bedrängten sie, ein wenig ungläubig, aber beharrlich, um nach kurzer Stille, und einer zaudernden, keineswegs überzeugenden Antwort der übrigen Instrumente, die Frage aufs neue vorzubringen, diesmal mit anderem Klang, in einer neuen Tonart, dann wieder und wieder, doch jedesmal fiel die Antwort zögernd aus. Es gab keine Worte, die Florence mit diesen Tönen verbinden konnte; es war nicht, als ob etwas gesagt werden würde. Die Aufforderung blieb ohne Inhalt, ein reines Fragezeichen.
Es war der Beginn eines Mozart-Quintetts - Anlaß für manche Auseinandersetzung zwischen Florence und ihren Freunden, denn für dieses Stück brauchten sie eine Bratsche, ihre Kommilitonen aber wollten sich keine Umstände machen. Florence ließ nicht locker, sie wollte jemanden dazuholen, und als sie eine Nachbarin aus dem Wohnheim zur Probe einlud, um gemeinsam vom Blatt zu spielen, begeisterte sich
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