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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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anwesend. Erst als sie sich verliebte, merkte sie, wie seltsam abgeschottet von allem sie bislang gelebt hatte. Wann immer Edward fragte: »Wie fühlst du dich?« oder »Was denkst du gerade?«, gab sie eine hilflose Antwort. Erst jetzt wurde ihr allmählich klar, daß es einen ganz einfachen Trick zu geben schien, den außer ihr offenbar jeder beherrschte. Etwas so Simples, daß es niemand erwähnte: einen unmittelbaren Zugang zu Menschen und Ereignissen, zu den eigenen Wünschen und Bedürfnissen. All die Jahre hatte sie von den anderen und seltsamerweise auch von sich selbst abgeschnitten gelebt, hatte niemals gewagt, geschweige denn gewünscht, einen Blick zurückzuwerfen. Schon in den ersten Sekunden, dem ersten Blickwechsel im gefliesten, widerhallenden Saal mit den wuchtigen, niedrigen Deckenbalken, waren die Probleme vorhanden gewesen, die sie mit Edward haben würde.
    Edward wurde im Juli 1940 geboren, in jener Woche, in der die Schlacht um England begann. Lionel, sein Vater, sollte später erzählen, die Geschichte habe in jenem Sommer zwei Monate lang den Atem angehalten, ehe sie sich entschied, ob die erste Sprache seines Sohnes nun Deutsch werden würde oder nicht. Erst zu seinem zehnten Geburtstag fand Edward heraus, daß es sich dabei bloß um eine Redensart gehandelt hatte - im besetzten Frankreich zum Beispiel sprachen die Kinder auch weiterhin überall Französisch.
    Turville Heath war kaum ein Dorf zu nennen, es bestand nur aus ein paar Bauernhäusern auf der Gemeindeflur und am Waldrand auf dem breiten Hügelrücken oberhalb von Turville. Ende der dreißiger Jahre war die Stadtgrenze des fünfundvierzig Kilometer entfernten Londons bereits bis zum nordöstlichen Ende der Chiltern Hills vorgedrungen und hatte den Landstrich in ein Vorstadtparadies verwandelt. Doch im äußersten Südwesten, südlich von Beacon Hill, wo eines Tages ein steter Strom Autos und Lastwagen auf einer Autobahn durch einen Einschnitt in den Kreidefelsen in Richtung Birmingham rollen sollte, war die Gegend noch fast unversehrt.
    Vom Haus der Mayhews führte ein steiler, ausgefahrener Weg durch einen Buchenwald am Hof der Spinneys vorbei ins Wormsleytal hinab, das von einem durchreisenden Schriftsteller einmal ein verborgenes Juwel genannt worden war. Seit Jahrhunderten gehörte es derselben Bauernfamilie, den Fanes. Noch 1940 stammte das Wasser im Haus der Mayhews aus einem Brunnen, von dem man es in die Dachkammer trug, wo es in einen Sammeltank gegossen wurde. Daß damals, als das Land sich auf einen Krieg gegen Hitler vorbereitete, Edwards Geburt von den Behörden als Notfall eingestuft wurde, als eine Hygienekrise, war längst in die Familiengeschichte eingegangen. Mit Picke und Schaufel waren die Männer gekommen, ältere Männer, um im September jenes Jahres, als die Bombenangriffe auf London begannen, Wasser von der Hauptleitung in der Northend Road für die Mayhews abzuzweigen.
    Lionel Mayhew war Direktor der Grundschule in Henley. Frühmorgens stieg er aufs Rad und fuhr die acht Kilometer zur Schule hinunter, und am Ende des Tages schob er sein Rad wieder die lange, steile Anhöhe hinauf zur Heide, Hausaufsätze und Klassenarbeiten im Weidenkorb an der Lenkstange. 1945, in jenem Jahr, in dem die Zwillingsmädchen geboren wurden, kaufte er sich in Christmas Common für elf Pfund ein gebrauchtes Auto von der Witwe eines auf dem Atlantik verschollenen Marineoffiziers. Ein Motorwagen, der sich auf den schmalen Kalksteinwegen an Karren oder Gäulen im Pfluggeschirr vorbeischob, war damals noch ein seltener Anblick, doch gab es viele Tage, an denen das rationierte Benzin nicht reichte und Lionel wieder aufs Rad steigen mußte.
    In den frühen fünfziger Jahren war Lionels Alltag nach dem Unterricht nicht gerade typisch für einen berufstätigen Mann. Als erstes brachte er die Hefte in die winzige, zum Arbeitszimmer umfunktionierte Stube neben der Haustür und legte sie für später parat. Dies war der einzig ordentliche Raum im Haus, und es war ihm wichtig, die Arbeit vom Familienleben getrennt zu halten. Anschließend sah er nach den Kindern - Edward, Anne und Harriet gingen alle auf die Dorfschule in Northend und liefen Tag für Tag den Weg zu Fuß. Danach blieb Lionel einige Minuten bei Marjorie, ging dann in die Küche, bereitete das Abendbrot zu und räumte den Frühstückstisch ab.
    Nur in diesen Minuten, kurz vor dem Abendessen, wurde aufgeräumt. Sobald die Kinder alt genug waren, packten sie mit an, wenn auch

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