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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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er, wie ihm eine Last von den Schultern fiel. Natürlich, es stimmte, und gegen die Wahrheit ließ sich nicht ankämpfen. Er sollte besser gleich damit anfangen, sich einzureden, er hätte es schon immer gewußt.
    An einem heißen, schwülen Tag Ende Mai stand er mit seinem Vater unter der großen Ulme. Nach tagelangem Regen war die Luft gesättigt vom schwelgerischen Reichtum des Frühsommers - Vogelgesang und schwirrende Insekten, der Duft von gemähtem Gras, das in Reihen auf der Wiese lag, dazu das wuchernde Gestrüpp in ihrem Garten, der hinter dem Lattenzaun fast nahtlos in die weite Landschaft überging, und die Luft voller Pollen, die Vater und Sohn eine Ahnung von drohendem Heufieber zutrugen, während Sonnenlicht und Schatten die sich in einem leichten Wind wiegenden Gräser wie mit einem Geflecht heller und dunkler Kacheln überzogen. Edward hörte seinem Vater aufmerksam zu und versuchte, sich einen bitterkalten Wintertag im Dezember 1944 vorzustellen, den belebten Bahnsteig in Wycombe und seine Mutter, eingemummelt in ihren Mantel, eine Tasche mit wenigen, bescheidenen Weihnachtsgeschenken in der Hand. Sie trat einen Schritt vor, während sie auf den Zug von Marylebone wartete, der sie nach Princes Risborough und weiter nach Watlington bringen sollte, wo Lionel mit dem Wagen wartete. Das Nachbarsmädchen paßte auf Edward auf.
    Es gibt eine Sorte selbstgefälliger Reisender, die gern die Abteiltür öffnen, noch ehe der Zug hält, um dann mit einem kleinen Hüpfer auf den Bahnsteig zu springen und gleich weiterzueilen. Dadurch, daß ein solcher Mensch aussteigt, bevor der Zug seine Fahrt beendet hat, behauptet er möglicherweise seine Unabhängigkeit - er beweist, daß er kein bloßes Gepäckstück ist. Vielleicht will er auch seinen jugendlichen Schwung demonstrieren, oder er hat schlicht so wenig Zeit, daß jede Sekunde zählt. Der Zug bremste ab, womöglich etwas heftiger als gewöhnlich, und die Tür flog dem Reisenden aus der Hand. Die schwere Metallkante traf Marjorie Mayhew mit solcher Wucht an der Stirn, daß sie ihr den Schädel brach und ihre Persönlichkeit, Intelligenz und Erinnerung noch im selben Moment durcheinanderbrachte. Fast eine Woche lang lag sie im Koma. Der Reisende, von Augenzeugen als ein distinguiert aussehender Städter um die Sechzig beschrieben, hastete mit seinem Bowler,
    Regenschirm und der Zeitung davon - die junge, mit Zwillingen schwangere Frau zwischen einigem verstreutem Spielzeug auf dem Boden hingestreckt -und verschwand für immer in den Straßen von Wycombe mitsamt seinem schlechten Gewissen, jedenfalls hoffe er das, sagte Lionel.
    Dieser seltsame Moment im Garten - ein Wendepunkt in Edwards Leben - brannte eine bestimmte Erinnerung an den Vater in sein Gedächtnis ein. Lionel hielt die Pfeife in der Hand, zündete sie aber erst an, als er zu Ende erzählt hatte. Er hielt sie fest umschlossen, den Zeigefinger um den Pfeifenkopf gelegt, der Stiel knapp dreißig Zentimeter vor dem Mundwinkel in der Schwebe. Es war Sonntag, also war sein Vater unrasiert - Lionel hing keinem Glauben an, auch wenn er sich davon in der Schule nichts anmerken ließ. Diesen einen Vormittag in der Woche aber hatte er einfach gern für sich. Dadurch, daß er sich sonntags nicht rasierte -was für einen Mann seines Amtes schon recht ungewöhnlich war - schloß er sich ganz bewußt von jeder Form von Geselligkeit aus. An diesem Sonntag trug er ein zerknittertes, weißes, nicht einmal von Hand geglättetes, kragenloses Hemd und machte einen bedächtigen, irgendwie distanzierten Eindruck - er mußte dieses Gespräch in Gedanken schon viele Male geführt haben. Beim Reden wan-derte sein Blick manchmal vom Gesicht seines Sohnes zum Haus, als wollte er Marjories Zustand noch genauer heraufbeschwören oder nach den Mädchen sehen. Zum Schluß legte er Edward eine Hand auf die Schulter, eine ungewohnte Geste, und ging mit ihm die wenigen Schritte bis zum Ende des Gartens, dorthin, wo der baufällige Holzzaun unter wucherndem Unkraut verschwand. Dahinter lag eine fünf Morgen große Weide, ohne Schafe, dafür von zwei Löwenzahnstreifen überwuchert, die wie Straßen voneinander abzweigten.
    Seite an Seite blieben sie stehen, während sich Lionel die Pfeife ansteckte und Edward sich mit der Anpassungsfähigkeit seines Alters von dem Schock erholte und die Wahrheit zu akzeptieren begann. Natürlich hatte er sie immer schon geahnt. Allein die Tatsache, daß er kein Wort für ihren Zustand kannte, hatte

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