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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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das dir bis in die Augen hing.«
    »Ist das alles?«
    »Weil du ein bißchen wild ausgesehen hast, so als hättest du dich geprügelt.«
    »Ich war seit dem Vormittag mit dem Rad unterwegs gewesen.«
    Sie stützte sich auf die Ellbogen, um sein Gesicht besser studieren zu können, und wieder ließen ihre Blicke einander nicht los. Es war für sie noch eine neue, schwindelerregende Erfahrung, einem anderen Erwachsenen minutenlang hemmungslos und ohne Verlegenheit in die Augen sehen zu können. Nichts, dachte er, kam dem eigentlichen Liebesspiel näher. Sie zog ihm den Grasstengel aus dem Mund.
    »Was bist du doch für ein Naturbursche.«
    »Quatsch. Was noch?«
    »Na schön, weil du in der Tür stehengeblieben bist und dich umgesehen hast, als wenn dir der Saal gehörte. Stolz. Nein, eigentlich eher ziemlich dreist.«
    Er lachte. »Dabei habe ich mich über mich selbst geärgert.«
    »Und dann hast du mich entdeckt«, fuhr Flo-rence fort, »und beschlossen, mich so lange anzustarren, bis ich die Fassung verliere.«
    »Stimmt gar nicht. Du hast mich gesehen und dir gesagt, daß ich keinen zweiten Blick wert bin.«
    Sie küßte ihn, aber nicht leidenschaftlich, eher neckisch, zumindest kam es ihm so vor. In jener Anfangszeit hatte er noch die vage Hoffnung gehegt, sie sei eines jener legendären Mädchen aus gutem Hause, das mit ihm bis zum Äußersten gehen würde, und zwar schon bald. Aber bestimmt nicht im Freien und nicht an diesem befahrenen Flußabschnitt.
    Er zog sie enger an sich, bis die Nasen sich fast berührten und sie das Gesicht des anderen nicht mehr erkennen konnten. »Also hast du nun damals gedacht, daß es Liebe auf den ersten Blick ist?«
    Er fragte in leichtem, beinahe spöttischem Ton, aber sie beschloß, ihn ernst zu nehmen. Zwar wunderte sie sich gelegentlich darüber, worauf sie sich einließ, doch lagen die Ängste, die sie erwarteten, noch in weiter Ferne. Erst vor einem Monat hatten sie sich ihre Liebe gestanden, und das war für Florence so aufregend gewesen, daß es sie eine schlaflose Nacht gekostet hatte, in der sich ihr in unbestimmter Furcht die Frage aufdrängte, ob sie nicht zu impulsiv gewesen war und etwas aufgegeben, etwas Wichtiges preisgegeben hatte, das ihr eigentlich gar nicht gehörte. Trotzdem fand sie ihre Gefühle viel zu interessant, zu neu, zu schmeichelhaft und auch zu tröstlich, um ihnen zu widerstehen; verliebt zu sein und es laut zu sagen, das war wie eine Befreiung, von der sie sich immer wieder mitreißen ließ. Jetzt, am Flußufer, in der einschläfernden Hitze an einem der letzten Sommertage des Jahres, konzentrierte sie sich auf jenen Augenblick, als er in den Saal gekommen war, auf das, was sie gesehen und gefühlt hatte, als sie sich zum ersten Mal trafen.
    Um sich besser erinnern zu können, rückte sie von ihm ab, richtete sich auf und wandte den Blick von seinem Gesicht zum langsam dahinströmenden, trübgrünen Fluß. Plötzlich war es mit der Ruhe vorbei. Einige Meter stromaufwärts bot sich ein vertrautes Bild: Eine Rammschlacht zwischen zwei überladenen Stechkähnen, die rechtwinklig ineinander verkeilt um die seichte Flußbiegung trieben, Studenten, die mit dem üblichen Geplansche, Gekreisch und Piratengebrüll über die Stränge schlugen und Florence daran erinnerten, wie sehnlich sie sich immer schon von hier fortgewünscht hatte. Schon als Schulmädchen hatten sie und ihre Freundinnen solche Leute unerträglich gefunden, diese kindischen Eindringlinge in ihre Heimatstadt.
    Sie versuchte sich wieder auf ihre erste Begegnung zu konzentrieren. Er war auffällig angezogen gewesen, aber sein Gesicht hatte sie besonders interessant gefunden - das feine Oval mit der hohen, nachdenklichen Stirn, den dunklen, geschwungenen Brauen und einem gleichmütig über die Menge schweifenden Blick, der geistesabwesend an ihr hängenblieb, so als stellte er sich bloß vor, daß er sie sah, träumte sie nur. Hilfreich ergänzte die Erinnerung, was sie noch nicht gehört haben konnte, den Oxforder Akzent mit ländlichem Einschlag, einer dezenten Beimischung von West Country.
    Sie wandte sich ihm wieder zu. »Du hast mich neugierig gemacht.«
    In Wahrheit war alles noch viel komplizierter gewesen. Sie war nicht ihrer Neugier gefolgt. Sie war auch nicht auf die Idee gekommen, sie könnte sich mit ihm verabreden oder ein Wiedersehen herbeiführen. Es war, als hätte sich ihre Neugier verselbständigt und hatte nichts mehr mit ihr zu tun, sie selbst war wie gar nicht

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