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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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ihm seine Unschuld bewahrt. Ihm war nicht einmal der Gedanke gekommen, sie könnte in einem >Zustand< sein, und doch hatte er sich gleichzeitig damit abgefunden, daß sie anders war. Der Widerspruch wurde nun durch die simple Benennung gelöst, durch die Macht der Sprache, Ungesehenes sichtbar zu machen. Hirngeschädigt. Der Begriff zersetzte alle Intimität und bewertete seine Mutter kühl nach öffentlichen Maßstäben, die jedermann verstand. Plötzlich tat sich eine Distanz auf, nicht allein zwischen ihm und seiner Mutter, sondern auch zwischen ihm selbst und seinen eigenen unmittelbaren Lebensumständen; er spürte, wie sein innerstes Wesen, der verborgene Kern, den er nie zuvor beachtet hatte, unvermutet eine scharf umrissene Form annahm, wie eine glühende Nadelspitze, von der niemand etwas ahnen sollte. Sie war hirngeschädigt, und er war es nicht. Er war nicht seine Mutter, auch nicht seine Familie, und eines Tages würde er gehen und nur noch als Besucher wiederkehren. Schon jetzt stellte er sich vor, dieser Besucher zu sein, der seinen Vater nach einem langen Auslandsaufenthalt wiedersah und mit ihm über das Weideland schaute, dorthin, wo sich die Löwenzahnstraßen gabelten, kurz bevor das Gelände sanft zum Wald hin abfiel. Es war ein Gefühl der Einsamkeit, mit dem er da experimentierte, und es bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, gleichzeitig aber erregte ihn die Kühnheit seiner Gedanken.
    Lionel schien zu verstehen, was seinem schweigenden Sohn durch den Kopf ging. Er versicherte Edward, er sei wundervoll zu seiner Mutter gewesen, stets freundlich und hilfsbereit, und diese Unterhaltung ändere gar nichts. Sie beweise nur, daß er nun alt genug sei, die Wahrheit zu ertragen. In diesem Augenblick kamen die Zwillinge in den
    Garten gelaufen, um ihren Bruder zu suchen, und Lionel blieb gerade noch Zeit, ein weiteres Mal zu wiederholen: »Was ich dir gesagt habe, ändert nichts, absolut nichts«, ehe die Mädchen lärmend über sie herfielen und Edward zum Haus zogen, damit er sich ansah, was sie gebastelt hatten.
    Dafür änderte sich damals sonst so allerhand. Er ging in Henley aufs Gymnasium und begann von verschiedenen Lehrern zu hören, daß er das Zeug zum Studieren habe. Sein Freund Simon aus North-end war auf der Realschule, genau wie die Dorfjungen, mit denen er sich herumtrieb, doch bald würden sie abgehen, um einen Beruf zu erlernen oder auf einem Hof zu arbeiten, bis sie dann eingezogen wurden. Edward hoffte auf eine andere Zukunft. Beim Zusammensein mit seinen Freunden war schon jetzt eine gewisse Verkrampftheit zu spüren, die ebenso von ihrer Seite wie von ihm ausging. Und da er jede Menge Hausaufgaben aufhatte - trotz seiner Sanftmut war Lionel in dieser Hinsicht ein wahrer Tyrann -, zog Edward nach der Schule nicht mehr mit den Jungs durch den Wald, baute keine Hütten, stellte keine Fallen mehr und ärgerte auch die Wildhüter von Wormsley Park oder Stonor Park nicht länger. Selbst eine Kleinstadt wie Henley war nicht frei von großstädtischem Dünkel, und so lernte er rasch zu verheimlichen, daß er die Namen der Schmetterlinge, Vögel und auch der Wildblumen kannte, die unterhalb ihres Hauses in dem heimeligen Tal wuchsen, das der Familie Farne gehörte - Glockenblume, Zichorie, Skabiose, Sumpfwurz, die zehn Arten Orchideen und der seltene Japanische Schneeball. Am Gymnasium würde ihn solches Wissen nur zum Hinterwäldler abstempeln.
    Daß er an jenem Tag von Mutters Unfall erfuhr, änderte nach außen hin überhaupt nichts, doch die vielen winzigen Verschiebungen und Umorientierungen in seinem Leben verdichteten sich in diesem neuen Wissen. Seiner Mutter gegenüber blieb er aufmerksam und freundlich und hielt auch weiterhin die Illusion aufrecht, daß sie die Arbeit im Haus erledigte und alles, was sie sagte, der Wahrheit entsprach, doch spielte er jetzt eine Rolle, und dadurch festigte sich der neu entdeckte, harte kleine Kern seiner Persönlichkeit. Mit sechzehn hatte er eine Vorliebe für lange einsame Streifzüge entwik-kelt. Außer Haus zu sein half ihm, klare Gedanken zu fassen. Oft folgte er der Holland Lane, einem eingesunkenen Feldweg, der von bemoosten Böschungen zugewuchert wurde und hinab nach Turville führte, wanderte dann durch das Hambleden-tal zur Themse und wechselte bei Henley hinüber in die Hügellandschaft der Berkshires. Der Aus-druck »Teenager« war damals neu, weshalb Edward auch überhaupt nicht in den Sinn kam, daß die Einsamkeit, die er

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