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Am Tor Zur Hoelle

Am Tor Zur Hoelle

Titel: Am Tor Zur Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anshin Thomas
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selbstgerechte Tenor lautete, dass Leutnant Calley, der für diesen Trupp Soldaten verantwortlich gewesen war, zur Rechenschaft gezogen und mit dem Tode bestraft werden solle. Es waren Studentinnen und Studenten, die zu den Friedensaktivisten am College zählten, nicht etwa Soldaten, die diese Forderung äußerten.
    Ich erhob mich und sagte: »Wenn dieser Leutnant ein Kriegsverbrecher ist, was ist dann mit Harry Truman? Er hat Hunderttausende von japanischen Zivilisten getötet, indem er zwei Bomben geworfen hat.« Aber darüber wollten sie nicht sprechen. Sie meinten nur: »Wer bist du schon, dass du so redest? Du verstehst die Natur des Krieges nicht.« An diesem Punkt gab ich mich als Vietnam-Veteran zu erkennen, kriegsversehrt, mehrfach verwundet, noch vor meinem zwanzigsten Geburtstag. An diesem Punkt sagte ich: »Ihr seid diejenigen, die die Natur des Krieges nicht verstehen. Ihr versteht nicht, womit Soldaten Tag für Tag konfrontiert werden, nur um euer Recht zu verteidigen, das zu tun, was ihr gerade tut. Ihr begreift nichts.« Ich war außer mir vor Rage. Rage ist keine echte Wut. Rage ist ein riesiges Pulverfass nicht bewältigter Gefühle. Rage setzt sich aus tief sitzenden Gefühlen von Traurigkeit und Machtlosigkeit, von Verzweiflung und Abgewiesensein zusammen. Doch von all dem wusste ich nichts; ich konnte diese Gefühle nur in Form von Rage ausdrücken. Das Nächste, an das ich mich erinnere: Ich werde von der Polizei mit vorgehaltener Pistole abgeführt. Vom Zeitpunkt meiner Rückkehr aus Vietnam bis etwa einen Monat, bevor ich in eine Rehabilitationsklinik für Drogenabhängige ging, trug ich eine Waffe bei mir. Ohne Waffe fühlte ich mich nicht sicher. Ich schlief damit, ich aß damit, ich ging damit zur Schule, ich hatte eine in meinem Wagen liegen. Mein Sicherheitsgefühl hing von dieser Waffe ab. Mein Sicherheitsgefühl hing von etwas außerhalb meiner selbst ab. Zu jener Zeit verfügte ich noch nicht über die Einsicht, dass Schutz und Geborgenheit nicht davon abhängen, die Welt zu beherrschen, so dass sie meiner Vorstellung von dem, wie sie zu sein hat, entspricht. Ich wusste nichts von der Zweiten Edlen Wahrheit des Buddha zu den Ursachen des Leidens: Selbstsüchtiges Verlangen, Gier und Unwissenheit. Die äußere Welt beherrschen zu wollen, so dass sie meinen Vorstellungen von dem, wie sie zu sein hat, entspricht, ist Selbstsüchtiges Verlangen, Gier und Unwissenheit. Ich wusste nur das, was meine Familie und die Gesellschaft mir vermittelt hatten. Die Lösung für eine unangenehme Situation bestand darin, die Welt so zu formen, wie ich sie haben wollte. Wenn ich die Waffe habe, bin ich am Drücker und kann die ganze Welt dazu bewegen, sich mir zu fügen. Heute weiß ich, dass Schutz und Geborgenheit einzig aus der Einsicht stammen können, dass ich die Welt nicht nach meinen Vorstellungen formen kann; ich muss lernen, in Einklang mit dem Leben, wie es ist, zu leben.
    Eines Nachts im Jahre 1978 saß ich auf den Eingangsstufen zu meinem Haus mit einer ungeladenen Waffe unter dem Kinn und zog den Abzug durch – klick, klick, klick – und tobte und weinte, weil der Schmerz mich überwältigte. Ich wollte nichts als sterben. Nein, ich wollte nicht wirklich sterben; ich wusste nur nicht, wie ich mit all dem leben sollte. Ich suchte außerhalb meiner selbst nach etwas, das mir helfen könnte, das mich wieder in Ordnung bringen würde, das mich genesen lassen würde. Aber nichts funktionierte.
    Oftmals habe ich gedacht, dass die jungen Männer, die in Vietnam starben, das bessere Los gezogen haben. Diejenigen von uns, die nicht gestorben sind, die mit dem Trauma und der Wirklichkeit dieser Erfahrung leben müssen, zahlen tagtäglich den Preis. Wir sind die Sündenböcke einer ganzen Nation, einer ganzen Kultur, die die Verantwortung für ihre Entscheidungen, für ihre Taten nicht übernehmen will.
    Krieg beginnt nicht mit einer Kriegserklärung. Krieg endet auch nicht mit einem Waffenstillstand. Die Saat des Krieges wird fortwährend gesät, und die Ernte endet nie. Ich habe Krieg erlebt, bevor ich in den Krieg zog: in meiner Familie, im Krieg und im Krieg nach dem Krieg.
    1985 ging ich nach Washington, D. C., um mir das Denkmal für den Vietnamkrieg anzusehen: eine schwarze Steinwand mit den eingravierten Namen der 57 263 Amerikanerinnen und Amerikaner, die in Vietnam

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