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Am Tor Zur Hoelle

Am Tor Zur Hoelle

Titel: Am Tor Zur Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anshin Thomas
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spirituellen Lehrerinnen und Lehrern und einer breiten Palette von entsprechenden Angeboten ermöglicht. Eine der Seiten in dieser Broschüre war mit einem Eselsohr versehen. Als ich sie aufschlug, entdeckte ich ein Foto von eben jenem Mönch und las die Ankündigung eines Retreats, das er für Vietnam-Veteranen anbot. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich eine hervorragende Ausrede gehabt, ihn nicht aufsuchen zu müssen, denn er lebte in Frankreich, und ich besaß nicht genügend Geld, um dorthin zu reisen, weil ich nicht arbeiten konnte – ich war arbeitsunfähig. In der Broschüre fand ich zudem einen Hinweis – gelb markiert –, der besagte, dass es für Bedürftige die Möglichkeit eines Stipendiums gebe, deshalb galt meine Ausrede nicht länger. Da ich mir gelobt hatte, alles zu tun, um meine Heilung zu befördern, musste ich den Schritt unternehmen.
    Die beiden Frauen, die mir von Thich Nhat Hanh erzählt hatten, kannten einander. Doch keine von beiden wusste, dass die andere denselben Vorschlag gemacht hatte; sie beide hatten dieses Thema unabhängig voneinander angesprochen. Vielleicht ging ich deshalb – denn der Entschluss selbst lief meinem inneren Instinkt entschieden zuwider.
    Ich tat diesen Schritt; ich griff zum Telefon, um die Sache mit dem Retreat in die Wege zu leiten. Ich erklärte der Frau am anderen Ende der Leitung, dass ich große Schwierigkeiten hätte, unter Menschen zu sein. Im ganz gewöhnlichen sozialen Umgang empfände ich Unbehagen. Ich sei unruhig und nervös, wenn ich mit anderen Menschen zusammen sei; ich sei am liebsten allein. Ich sagte ihr auch, dass es mir schwer fiele, nachts zu schlafen, eine beschönigende Formulierung für ein ausgesprochen gestörtes Schlafverhalten. Die Leute vom Omega Institute waren unsicher und zögerlich, ob sie mich, einen dieser labilen Vietnam-Veteranen, als Teilnehmer an diesem Retreat akzeptieren sollten. Also riefen sie die Organisatoren an und fragten nach. »Wir schicken niemanden fort«, lautete die Antwort. Diese Leute sprachen im Namen der Vietnamesen, meiner Feinde. Sie sagten: »Wir schicken niemanden fort.« Meine Landsleute, die Menschen, für die ich gekämpft hatte, hatten mich fast immer fortgeschickt. Die Vietnamesen nahmen mich an.
    Ich setzte mich auf mein Motorrad und fuhr zu dem Retreat. Zu jener Zeit besaß ich eine schwarze Harley-Davidson. Und ich trug das für mich damals typische Outfit: schwarze Lederjacke, schwarze Stiefel, schwarzer Helm, golden verspiegelte Brille und eine rote Bandanna um den Hals. Meine Kleidung strahlte nicht gerade warme Herzlichkeit aus. Die Art, wie ich mich kleidete, die Art, wie ich mich darstellte, zielte darauf ab, mir die Menschen vom Leib zu halten, denn ich hatte Angst, richtige Angst.
    Ich traf früh ein, damit ich den Ort vorher erkunden konnte. Ohne groß darüber nachzudenken, ging ich das ganze Gelände ab: Wo sind die Grenzen? Welche Orte sind gefährlich? Wo biete ich Angreifern ein leichtes Ziel? Wo kann der Feind herkommen? Hierher zu kommen stieß mich ins Unbekannte, und das Unbekannte war für mich Krieg, und mit so vielen Menschen zusammen zu sein, die ich nicht kannte, machte mir schreckliche Angst, und schreckliche Angst war Krieg.
    Nach meiner Erkundung ging ich zur Rezeption und fragte, wo der Zeltplatz sei, denn ich wollte mein Zelt nicht dort aufschlagen, wo alle anderen ihre Zelte aufschlugen. Ich hatte viel zuviel Angst in der Nähe so vieler Fremder. Zu jener Zeit war jeder Tag von Angst erfüllt – Angst vor einem Hinterhalt, Angst vor einem Angriff, Angst vor einem jeden Moment ausbrechenden Krieg. Rational wusste ich, dass diese Dinge nicht geschehen würden, aber diese Ängste, wie die Wirklichkeit des Krieges, sind nicht rational.
    Ich errichtete mein Zelt im Wald, weit entfernt von den anderen, und da saß ich dann und fragte mich: »Was tue ich hier? Warum bin ich in diesem buddhistischen Retreat bei einem vietnamesischen Mönch? Ich muss völlig den Verstand verloren haben, muss wohl völlig verrückt geworden sein.«
    An jenem ersten Abend sprach der Mönch, der das Retreat leitete, zu uns. In dem Augenblick, als er zur Tür hereinkam und ich ihm ins Gesicht sah, begann ich zu weinen. Ich begriff zum ersten Mal, dass ich Vietnamesen einzig als meine Feinde kannte, und dieser Mann hier war nicht mein Feind. Es war kein bewusster Gedanke; es

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