Am Ufer der Traeume
schmeckt er.«
Sie trank einen weiteren Schluck, genoss das angenehme Gefühl, als sich das warme Getränk in ihrem Magen ausbreitete. Der junge Mann gefiel ihr, auch wenn er ein freches Mundwerk hatte und vorlaut war. Aber in der Beziehung standen sie sich in nichts nach. Es waren wohl seine unbeschwerte Art und das schelmische Blitzen in seinen Augen, die sie in den Bann zogen. Als hätte er nie von einer Kartoffelfäule und einer Hungersnot gehört. Wer den Tod seiner Eltern und seines Bruders auf diese Weise verarbeitete, musste stark sein, unheimlich stark und voller Gottvertrauen. Ein ganzer Mann eben. Und das war Bryan, aber gleichzeitig schien sich hinter seiner scheinbar ungezwungenen Fassade auch viel Gefühl zu verbergen. Nicht jeder junge Mann hätte ihr die Stelle mit den Fischen gezeigt und sie zu einem Becher mit erstklassigem Tee eingeladen. Jedenfalls nicht ohne Hintergedanken.
Bryan hatte keine Hintergedanken, und wenn, ließ er sie sich nicht anmerken. Stattdessen stopfte er einen Teil seiner Vorräte in einen Leinensack, packte ihre drei Fische dazu und sagte: »Das dürfte eine Weile reichen.« Er gab ihr noch zwei seiner Decken. »Ihr habt sicher nicht genug. Hier kann es nachts verdammt kühl werden. Wenn ich wieder in die Stadt gehe, hole ich neue.«
Sie nickte dankbar und strich über die ausgefransten Decken. In dieser Wildnis waren sie Gold wert. »Vielen Dank.« Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. »Du bist ... du bist schwer in Ordnung. Ein wenig vorlaut, aber ...« Sie lächelte sanft. »... aber in Ordnung. Von wem hast du die blauen Augen?«
»Von meiner Mutter ... wieso?«
»Sie sind so ... so blau. Ich sollte dich ›Blue Eyes‹ nennen.«
»Untersteh dich!«
»Wenn du mit dem ›Little Red‹ aufhörst.«
»Versprochen.« Jetzt lächelte auch er. »Kommst du morgen wieder?«
»Wenn ich darf?« Sie stand auf und griff nach dem Beutel mit den Vorräten. Hintereinander traten sie ins Freie. »Und wenn es noch Forellen gibt.«
»Für dich immer. Auf Wiedersehen, Little Red.«
»
Farewell
, Blue Eyes.«
Sie stieg den steilen Pfad hinauf und drehte sich erst um, als sie den Hügel erklommen hatte. Er stand immer noch vor seiner Hütte und blickte ihr nach.
5
Ohne Bryan wären die Campbells wahrscheinlich verhungert. Er schenkte Molly eine Angel, die diesen Namen verdiente, und half ihr, Forellen und andere Fische aus dem Bach zu ziehen. Außer dem Tümpel unterhalb des Wasserfalls gab es noch andere Stellen, an denen man Fische erwischte. Schon nach wenigen Tagen konnte sie fast so gut wie er mit der Angel umgehen.
Bis sie es schaffte, ein Eichhörnchen zu treffen, dauerte es etwas länger. Bryan zeigte ihr, welche Steine am geeignetsten waren, wie man den richtigen Moment abpasste und wo man die kleinen Tiere am besten erwischte. Molly war auf einer Farm groß geworden und dabei gewesen, als sie Schweine oder Hühner für die Engländer geschlachtet hatten, dennoch hätte sie es vor der Hungersnot nicht fertiggebracht, ein so putziges Tierchen zu töten. Doch der Hunger änderte vieles, und sie wusste inzwischen, dass ein Mensch auch Eidechsen und eklige Käfer verschlang, wenn es nichts anderes gab.
Die kargen Mahlzeiten, die sie in der Höhle zu sich nahmen, linderten den quälenden Hunger, der noch vor wenigen Tagen an ihnen genagt hatte. Es ging ihnen so gut wie schon lange nicht mehr. Das Fleisch und der Fisch gaben ihnen neue Kraft und brachten neuen Glanz in ihre Augen. Ihre Haut war nicht mehr so spröde und farblos. Sie lachten wieder öfter und auch ihre Mutter gewann neuen Lebensmut und genoss den kostbaren Tee, der ihren Husten vertrieb. Molly und Fanny gaben ihr bei jedem Essen die größte Portion.
Molly freute sich über die plötzliche Veränderung am meisten. Sie stieg nicht nur wegen der Nahrung, die es in der abgelegenen Wildnis noch gab, in Bryans Tal hinab. So nannte sie sein Versteck: Bryans Tal. Sie nahm auch seinetwegen die strapaziöse Wanderung auf sich. Ihr Herz schlug jedes Mal schneller, wenn sie ihn wiedersah. Zwischen ihnen war innerhalb kürzester Zeit eine seltsame Vertrautheit entstanden, ein Gleichklang der Gedanken, als wäre es Gottes Wille gewesen, sie zu vereinen. Sie liebte sein verschmitztes Lächeln und lachte über seine spöttischen Bemerkungen, und sie glaubte zu sehen, wie seine blauen Augen strahlten, wenn er sie begrüßte. Als er ihr zeigte, wie man ein Eichhörnchen jagte, und ihr dabei freundschaftlich den Arm
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