Am Ufer der Traeume
Feuerwache und lief über das Geröllfeld zum Bach hinunter. Sie folgte seinem Lauf bis zu einer geschützten Stelle zwischen einigen Felsen und blickte sich aufmerksam um, bevor sie sich am Ufer niederließ. Auch in dieser Einöde konnten Strauchdiebe und Wegelagerer lauern. Sie trennte einige Fäden aus den Lumpen an ihrem Körper, flocht sie zu einer einigermaßen haltbaren Angelschnur und verband sie mit einem scharfen Holzsplitter. Darauf spießte sie einen Regenwurm, den sie aus der feuchten Erde grub. Alles andere als eine perfekte Angel, aber etwas anderes besaß sie nicht. Bei ihrem nächsten Besuch in der Stadt würde sie versuchen, an Lederschnüre und Eisenhaken zu kommen.
Sie band die Angelschnur an einen abgebrochenen Ast und schleuderte sie in den Fluss. Nichts geschah. Lediglich die Strömung zog an der dünnen Schnur und ließ den Splitter mit dem Wurm im Wasser tanzen. Sie war nie besonders geduldig gewesen und hätte am liebsten schon nach wenigen Minuten aufgegeben, musste sich zwingen, geduldig auf das Zuschnappen eines Fisches zu warten. Doch nach ungefähr einer Viertelstunde hatte sie genug und zog die Schnur aus dem Wasser. Der Wurm hing noch immer an dem Splitter. Sie lief ein paar Schritte bachaufwärts und versuchte es noch einmal.
»So wird das nie was, Little Red«, sagte jemand hinter ihr.
Sie fuhr herum und sah sich einem jungen Mann gegenüber, ungefähr zwei Jahre älter als sie und einen Kopf größer. Seine Augen waren hellblau wie der Himmel an einem schönen Frühlingstag. Er trug ein spöttisches Grinsen zur Schau, als hätte er eine diebische Freude daran, sich über sie lustig zu machen, und musterte sie ungeniert. Sie zog mit einer Hand an ihren Lumpen, schaffte es aber nicht, alle ihre Blößen zu bedecken. Er trug einen Poncho aus einer Wolldecke, wie ein Schäfer oder Kuhhirte, und stützte sich auf einen Wanderstock. Unwillkürlich dachte sie an die schemenhafte Gestalt, die sie am Waldrand beobachtet hatte. Unter seiner Schirmmütze lugten einige rotblonde Locken hervor. Auch er hatte eine Angel dabei, die er sich aus einem knorrigen Ast, einer dünnen Lederschnur und einem gekrümmten Draht gebastelt hatte, und an seinem ledernen Gürtel hingen zwei Forellen.
Molly erholte sich schnell von ihrem Schrecken und fuhr den jungen Mann an: »Was fällt dir ein, dich an mich he-ranzuschleichen? Und wer bist du, dass du hier schlaue Reden führst? Du siehst mir eher wie ein Landstreicher aus.«
»Das bin ich auch, Little Red.« Sein Grinsen veränderte sich nicht. »Oder kennst du einen Iren, dem es anders geht? Unsere Leute stehen entweder auf der Straße und verhungern langsam oder arbeiten sich im Arbeitshaus krumm und bucklig und bekommen dafür Wassersuppe mit verschimmeltem Brot. Ich bin Bryan Halloran und stehe auf der Straße, denke aber nicht im Traum daran zu verhungern. Ich finde immer was zu essen.« Er hielt die Fische hoch. »Willst du wissen, woher diese Prachtexemplare kommen, Little Red?«
»Nenn mich nicht Little Red. Die meisten Iren haben rotes Haar, das ist doch nichts Besonderes. Ich bin Molly Campbell und kann es nicht leiden, wenn man sich über mich lustig macht. Wo hast du die Forellen gefangen?«
»Ah, du weißt, dass es Forellen sind, das ist doch schon mal was.« Er zog sie mit der freien Hand vom Boden hoch. »Natürlich zeige ich dir, wo ich diese prachtvollen Fische gefangen habe. Einem schönen Mädchen wie dir kann ich nichts abschlagen.« Er betrachtete sie mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Bewunderung. »Bist du ganz allein in dieser öden Wildnis?«
Sie hatte keine Angst vor ihm, vertraute ihm sogar. Ein Strauchdieb oder Wegelagerer benahm sich anders. »Mit meiner Mutter und meiner Schwester Fanny. Wir wohnen in einer der Höhlen da drüben.« Sie folgte ihm am Ufer des Baches entlang, blieb dicht hinter ihm und bewunderte die lässige Art, wie er sich bewegte. »Der englische Landbesitzer hat uns von unserer Farm vertrieben.« Sie erzählte ihm in nüchternen Worten, was auf der Farm geschehen war.
»Die Geschichte kommt mir bekannt vor.«
»Man hat euch auch vertrieben?«
Sein Grinsen war verschwunden. »Nur mich ... ich bin allein. Meine Eltern und mein Bruder sind tot. Meine Mutter und Kevin ... so hieß mein jüngerer Bruder ... starben letztes Jahr am Schwarzen Fieber. Sie waren zu schwach für den großen Hunger. Mein Vater wäre ihnen am liebsten gleich gefolgt. Er hing sehr an meiner Mutter und meinen kleinen
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