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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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gewirkt, obwohl sie ihn nur schemenhaft sehen konnte, wie eine Figur aus einem Traum, den man schon mehrmals geträumt hat.
    Sie marschierten den ganzen Tag, ohne etwas zu essen zu finden. Auch auf der Farm hatten sie in letzter Zeit immer wieder einen Tag oder länger ohne Mahlzeiten auskommen müssen, aber an den nagenden Schmerz, den der Hunger verursachte, würden sie sich wohl nie gewöhnen. Wasser schöpften sie aus dem Bach, an dessen Ufer sie den ganzen Nachmittag entlangliefen. Mehr als einmal ärgerte sich Molly darüber, keine Flasche mitgenommen zu haben, so blieb ihnen nur der Kochtopf, um Wasser zu transportieren. Trinken war noch wichtiger als essen, so viel wusste sie.
    Die Suche nach einer Höhle, die ihnen genügend Schutz bot, gestaltete sich leichter, als sie befürchtet hatten. Noch vor dem Abend entdeckte Molly ein dunkles Loch in der Felswand, die sich am anderen Ufer des Baches erhob und zu einem größeren Massiv gehörte, das wie eine mittelalterliche Burg in den Himmel ragte. Molly sprang über den Bach, bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und über das Geröll, das den steilen Hang zur Felswand bedeckte, und spähte vorsichtig in die Höhle hinein. Sie wollte sichergehen, dass sich kein wildes Tier darin versteckte, bevor sie ihre Mutter und ihre Schwester rief. Doch die Höhle war leer und außer einer Eidechse, die schleunigst unter einem Felsvorsprung verschwand, war kein Tier zu sehen.
    »Mutter! Fanny! Hier können wir bleiben!«, rief Molly.
    Die Höhle war etwas größer als das Lehmhaus, in dem sie gewohnt hatten, und bot ihnen ausreichend Platz. Wie ein dunkler Kerker erstreckte sie sich in den grauen Fels. Die Wände waren feucht, kein gutes Omen, wenn sie an den bevorstehenden Winter und die Anfälligkeit ihrer Mutter für Erkältungen dachte, doch vor der Höhle wuchsen verkrüppelte Bäume und Gestrüpp, ein ausreichender Vorrat an Brennholz für wärmende Feuer. Sie nahm sich fest vor, ungefähr alle vier Wochen nach Castlebar zu wandern, um nachzusehen, ob die Regierung etwas gegen den Hunger tat, wieder Mais einführte oder Suppenküchen einrichtete, und um neue Streichhölzer, vielleicht sogar Wolldecken und Proviant zu besorgen. Wie sie das schaffen sollte, wusste sie noch nicht. Sie war jedoch fest entschlossen, ihnen das Arbeitshaus zu ersparen.
    Molly und Fanny schafften Laub und Gras in die Höhle und breiteten die beiden Wolldecken darüber. Ein annehmbares Nachtlager, das sie vor dem kalten Höhlenboden schützen würde. In der Mitte der Höhle entzündeten sie ein Feuer. Sie trugen Holz und Gestrüpp für ein paar Tage herein und verabredeten, das Feuer möglichst nicht ausgehen zu lassen, um wertvolle Streichhölzer zu sparen. Molly und Fanny würden sich mit der Bewachung des Feuers abwechseln. Ihre Mutter überredeten sie, sich erst einmal auszuruhen, bis sie ihren leichten Husten überwunden hatte und wieder einigermaßen bei Kräften war. Sie durfte auf keinen Fall ernsthaft krank werden. »Macht euch keine Sorgen um mich!«, beruhigte sie ihre Töchter, aber ihre Augen sagten etwas anderes. Der Hunger und die Sorge um die Zukunft machten ihr zu schaffen.
    Noch vor dem Schlafengehen versuchte Molly, etwas Essbares zu finden, hatte aber nur wenig Glück. Außer ein paar Kräutern und einer wilden Zwiebel fand sie nichts. Als ein Eichhörnchen dicht vor ihr über das Geröll huschte, nahm sie einen Stein, warf aber weit an dem flinken Tier vorbei und ließ es in eine Baumkrone entkommen. Anscheinend war sie nicht so geschickt wie der Mann, den sie am vergangenen Abend getroffen hatten. Er hatte sein Eichhörnchen mit einem gezielten Steinwurf niedergestreckt. Sie würde sich eine andere Methode ausdenken müssen, um an die Tiere heranzukommen.
    Mit ihrer mageren Ausbeute kehrte sie in die Höhle zurück. Fanny hatte inzwischen Wasser geholt. Sie kochten eine dünne Brühe, überließen ihrer Mutter den größten Teil der wilden Zwiebel und freuten sich, wenigstens etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Molly übernahm die erste Wache, legte rechtzeitig Holz nach, wenn das Feuer zu klein wurde, und beobachtete ihre Mutter und ihre Schwester, die beide dicht am Feuer lagen und die Wärme selbst im Schlaf zu genießen schienen. Ihre Mienen waren friedlich und entspannt, ein seltener Anblick in diesen schweren Zeiten, und einmal lächelte Fanny sogar. Anscheinend träumte sie von ihrem Edelmann.
    Früh am nächsten Morgen überließ Molly ihrer Schwester die

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